Hagen-Mitte. Hielt das Format, was es versprach? Zugehört, wenn ein Spitzenpolitiker in einer Hagener Diskothek auftritt.
Der Künstler „Maxwell“, Teil der Hamburger Rap-Formation „187 Straßenbande“ lugte kurz in die große Halle der Diskothek „Capitol“ auf dem Elbersgelände. Verdutzt fragte er ins Halbdunkel: „Ist das Jens Spahn?“. Dann drehte er um und haute wieder ab. Sein Auftritt sollte erst knapp viereinhalb Stunden später, um 1.30 Uhr in der Nacht folgen, wenn Spahn vermutlich schon im Bett und die Tanzfläche pickepackevoll ist. Jener Jens Spahn, vor drei Jahren noch Bundesgesundheitsminister, steht in diesen Minuten Rede und Antwort vor rund 100 Gästen. „Diskotieren“ heißt das Ganze etwas platt. Nichts als Wahlkampf oder wirklich eine Chance mit jungen Menschen in Kontakt zu kommen?
Er kam zu spät. Das tun Politiker oft. Auf dem Rücksitz irgendwelcher Limousinen werden fünf, sechs Termine am Stück abgerissen. Man muss vor allem eines dabei haben: eine Antwort auf irgendwie alles. Schwangerschaftsabbrüche, Energiewende, Antisemitismus, Asylrecht, Numerus Clausus für Medizinstudenten, Verbrennermotoren, AKW-Rückbauten, Schuldenbremsen. Eigentlich ist es unseriös zu glauben, dass ein Mensch auf all das eine Antwort haben kann. Im Polit-Betrieb, gerade im Wahlkampf, wird der Eindruck aber erweckt. Und so antwortet Spahn. Oft lang, oft ausführlich, oft zwei- und dreiteilig.
Sein Publikum in Hagens einziger Großraumdiskothek ist in weiten Teilen nicht das, was hier sowieso gleich noch feiern gegangen wäre. Die Junge Union (JU) - der Jugendzweig der CDU - hat das hier auf die Beine gestellt. Die Zuhörer: Jung-Unionisten und solche, die nah dran sind. Einige CDU-ler, die schon lange raus sind aus der JU, und sogar Senioren. Die Fragen von so manchem sind hochwertig, fachlich und erfordern eigentlich viel Spezialwissen. Wie bei einem mittelalten Herrn, der wissen möchte, ob man Migration nicht über das Instrument der Wohnsitzauflage steuern könne. Zwei Gästen merkt man an, dass die Vorbereitungen ihrer Fragen länger gedauert haben. Sie lesen Sie ab, schieben einige Schachtelsätze über Industrie und Wirtschaft ein. Es ist eine JU-Veranstaltung in den Räumen einer Disko und kein Polit-Talk mit den Gästen einer Disko.
Von der Polizei angehalten
Spahn hatte vor Eintritt in die Disko Bekanntschaft mit der Hagener Polizei gemacht. So mancher Hagener weiß ja angesichts der x-fach geänderten Verkehrsführung in der City, von kaputten Brücken, Bus-Spuren und Einbahnstraßenregelungen selber kaum noch, wo es lang geht. Und so rauschte Spahns Limousine wohl durch die Potthofstraße, wo aber nur Taxen und Busse lang dürfen. Die Polizei hielt ihn an. Willkommen in Hagen, Herr Spahn.
Ja, es ist viel Kampfgeheul. Spahn und der Vorsitzende der JU in Hagen, Max Schneevoigt, kommen Seite an Seite zum Roland-Kaiser-Schinken „Alles, was du willst“ auf die Tanzfläche, beginnend mit diesen lang gezogenen Zeilen: „Ein Ende kann ein Anfang sein.“ Passend zum Ampel-Aus Anfang November. „Ich hoffe für diese Diskothek, dass hier später nicht Roland Kaiser gespielt wird“, sagt Spahn. Er muss übrigens auch hoffen, dass seine vielleicht etwas hochtrabenden Andeutungen halten. Auf der Grundlage einer frischen Forsa-Umfrage spricht Spahn von einer möglichen absoluten Mehrheit. Er hat sich ausgerechnet, dass man dafür 38,5 Prozent bräuchte.
Ohnehin spricht er so, als wenn Regieren ab spätestens Frühjahr klar wäre. „Ich mache mir allerdings mehr sorgen über die Wahl 2029 als über die, die jetzt kommt. Wenn wir es bis 2029 nicht bringen, was kommt dann?“, deutet er an, dass die rechten und linken Ränder so stark werden, dass die Etablierten mächtig wackeln dürften. Dass Spahn mächtig auf den Putz haut und SPD, FDP und Grüne als „schlechteste Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik“ verbal vermöbelt, ist geschenkt und erwartbar.
Was für ein Karussell die Politik eben auch ist, kann man an seiner Person sehen. Vor drei Jahren wackelte gerade Spahn als Gesundheitsminister in der Corona-Pandemie gewaltig, gehörte zu den unbeliebtesten Spitzen-Politikern und sah sich Rücktrittsforderungen ausgesetzt, seine Partei wurde abgewählt. 72 Monate später lässt er sich von Max Schneevoigt im offenen Interview fragen, welches Ministeramt er wohl einnehmen könne. Zwar antwortet Spahn erwartbar ausweichend, der Elefant steht aber im Raum und zeigt, wie schnell doch alles geht.
Für die, die gekommen sind und Spahn ihre Fragen stellen, erweist er sich als kluger Kopf, was er ja auch ist. Aus JU-Sicht ist Spahn der Prototyp eines Vorbilds. Bei der JU im Kreisverband Borken legte er, eigentlich gelernter Bankkaufmann, Mitte der 90er-Jahre los. Seit 2002 ist er Bundestagsabgeordneter. Spahn (studierte an der Fernuni in Hagen Politik) durchlief das Young-Leader-Programm der Atlantikbrücke und des „American Council on Germany“. Seine Befürworter sehen, dass er in seiner Zeit als Gesundheitsminister gerade die Digitalisierung der Gesundheitswelt versucht habe, voranzutreiben. Seine Gegner haben sich das Taumeln und Wackeln beim Thema Impfstoffe, Masken, Lockdowns und vielen weiteren Covid-Themen gemerkt. Ganz sicher ist der Mann, der heute mit seinem Ehemann in Berlin lebt, als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag und Präsidiumsmitglied wieder ein aussichtsreicher Kandidat für ein Kabinett.
Ein Faktenchecker wäre gut gewesen
Ein Faktenchecker hätte dem Abend noch gut getan. Denn im Wahlkampf geht manchmal so einiges durcheinander. Da sprechen Politiker dann negativ über Dinge, die sie selbst mit beschlossen haben. Das Aus der Atomkraftwerke zum Beispiel. Spahn sagt aber auch viele Dinge, die wirklich gute Denk-Impulse für den nächtlichen Heimweg später sind. Zum Beispiel zu Sozialen Medien: „Wir haben in Deutschland klare, strenge Jugendschutz-Regelungen für den Konsum von Zigaretten und Alkohol. Aber wir lassen unsere Kinder einfach so ungeregelt auf die Social-Media-Welt los.“
Lockerung für Medizinstudenten
Er punktet auch bei den Anwesenden, als er sich für Lockerungen beim Numerus Claus für Medizinstudenten stark macht - wenn diese auch wirklich willens seien, mit Patienten zu arbeiten. Lockerungen für all jene, die in Hausarztpraxen gehen, wo sie dringend gebraucht werden. Auch, dass er Aufklärungsarbeit gegen Antisemitismus, Fremdenhass und Rassismus stärker finanzieren will, punktet.
Um 22 Uhr ist Jens Spahn fertig. Der Disko-Betrieb beginnt. Publikumswechsel.