Hagen. Ulrike lässt sich mit 77 ihr erstes Tattoo stechen, auch zwei weitere Bewohner lassen sich tätowieren. Eine Geschichte, die unter die Haut geht:
Es sind Freudentränen. Ulrike Uhlenbrock bestaunt stolz ihren Arm. Ihn zieren nun für immer eine feine Pusteblume und drei Buchstaben, die zusammen das Wort „M-u-t“ ergeben. „Das sind die Initialen meiner Brüder und mir“, sagt die 77-Jährige, die seit mittlerweile neun Jahren im Seniorenheim „Stadtblick“ oben am Kratzkopf lebt. Ihre Familie musste schon viele Schicksalsschläge verkraften: der frühe Tod ihres Bruders, ihr Schlaganfall. „Das ist mein erstes Tattoo. Ich fand das immer toll. Und Mut ist wichtig im Leben“, sagt die taffe Bewohnerin, die im Rollstuhl sitzt, und lächelt. Mutig ist sie auch heute. Sie zuckt nicht mal, als Tätowierer Sleman Al-Abdalla („Sle“) aus Hagen die Nadel auf ihrem Arm ansetzt und vorsichtig die feinen Linien der Pusteblume nachzieht, die sie sich ausgesucht hat.
„Das ist mein erstes Tattoo. Ich fand das immer toll. Und Mut ist wichtig im Leben.“
Für beide ist es ein besonderer Termin. „Ich habe in den sieben Jahren schon viel erlebt. Aber ich habe noch nie in einem Seniorenheim tätowiert. Als der Anruf kam, war ich sofort begeistert und habe zugesagt“, sagt der Hagener - der normalerweise im Studio „Smoking Guns“ in der Körnerstraße arbeitet - und lacht. Er bietet die Tattoos heute kostenlos an, weil es auch eine Herzensangelegenheit ist, heute hier zu sein. Gleich mehrere Bewohner des Hauses wollen Erinnerungen schaffen, die unter die Haut gehen und für immer sind. „Wir haben doch nix zu verlieren“, sagt Petra Ilgen (69).
Auch sie nimmt auf dem Stuhl am Fenster Platz. „Wenn nicht jetzt, dann mache ich es sowieso nie“, sagen beide Seniorinnen und zucken mit den Schultern. Petra Ilgen möchte sich ein Erdmännchen tätowieren lassen - ihr Lieblingstier, seit sie denken kann, „die sind einfach süß“. Ein weiterer Bewohner lässt sich „Mutti“, „Vati“ und zwei Namen auf die Arme stechen. „Ich finde es total cool, dass sie sich das getraut haben“, sagt Slemann, der seine gesamte Ausrüstung mit in die Einrichtung gebracht und aufwendig aufgebaut hat. „Den Termin werde ich jedenfalls nicht so schnell vergessen.“ Es wird gelacht, gescherzt, im Hintergrund summt leise und unaufhörlich die Nadel.
„Den Termin werde ich jedenfalls nicht so schnell vergessen.“
Mitarbeiterinnen erfüllen den Herzenswunsch
Ulrike Uhlenbrocks Töchter Britta Roggenthien und Antje Uhlenbrock schauen gespannt zu: „Als Mama uns von ihrer Idee erzählt hat, fanden wir das cool. Es gibt viele, die darüber vielleicht den Kopf schütteln - aber warum sollte sie es nicht machen? Dass es überhaupt die Möglichkeit dazu gibt, ist einfach nur klasse“, sind beide sich einig. Sie selbst sind nicht tätowiert.
Dementsprechend groß ist bei ihnen die Aufregung, als die Nadel über den Arm zuckt und sich langsam, nach und nach, die Pusteblume erkennen lässt. „Es tut gar nicht weh“, verspricht Ulrike Uhlenbrock ihren Töchtern. Händchen halten? Braucht sie nicht. Nach 30 Minuten ist es geschafft. Ulrike bewundert stolz das Motiv. Dann gibt es noch ein Erinnerungsfoto mit „Sle“ - samt Goldkette und goldenen Zähnen. Ein kleiner Spaß am Rande.
„Für uns stand schnell fest, dass wir ihr ihren Wunsch nach einem eigenen Tattoo auf jeden Fall erfüllen möchten“
Dass all das aber überhaupt erst möglich wurde, hat sie auch den Mitarbeiterinnen Sandra Reichberg und Dalina Schüring (Sozialer Dienst) zu verdanken, die die Aktion im Haus Stadtblick organisiert haben. „Wir haben immer mitbekommen, wie Frau Uhlenbrock die Tattoos der Mitarbeiterinnen bewundert hat. Wir haben zuerst Späße gemacht, dann plötzlich Ideen gesammelt und über Motive gesprochen. Für uns stand schnell fest, dass wir ihr ihren Wunsch nach einem eigenen Tattoo auf jeden Fall erfüllen möchten“, erklärt Sandra Reichberg und drückt Ulrikes Hand. Sie nahm Kontakt zu „Sle“ auf - „ich kannte seine Freundin Demet“ - und dann kam eins zum anderen.
Eine Geschichte, die unter die Haut geht.