Hagen.. Hagay Feldheim, Kantor und Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, befolgt die 613 Ge- und Verbote.

Jude zu sein habe nichts damit zu tun, was man glaube, sagt Hagay Feldheim (47), sondern ausschließlich damit, wie man sich verhalte: „Was zählt, ist die Einhaltung der 613 Ge- und Verbote.“ Während für Christen das Wissen um ein Leben nach dem Tod existenzieller Bestandteil ihres Glaubens ist, stellt das für Juden eine marginale Angelegenheit dar. Ob es Himmel und Hölle gebe, sei eine spekulative Frage, findet Feldheim: „Ich diene Gott aus Liebe und Dankbarkeit, nicht weil ich einmal mit dem ewigen Leben belohnt werden möchte.“

Orthodoxer Jude

Hagay Feldheim ist ein orthodoxer Jude. Er befolgt die 613 jüdischen Gebote und Verbote. Er isst koscher. Er hält den Sabbat ein, den vorgeschriebenen Ruhetag. Samstags arbeitet er nicht. Hagay Feldheim ist vielleicht der letzte orthodoxe Jude in Hagen, denn die meisten der 270 Mitglieder, die der Jüdischen Gemeinde Hagen/Märkischer Kreis angehören, sind weniger strikte Befolger der Glaubensregeln. Dennoch werden die Gemeindegebete in der Synagoge an der Potthofstraße regelmäßig von bis zu 90 Mitgliedern besucht – ein Zeichen für den hohen Grad an Identifikation, der auch weltliche Juden mit ihrer Religion verbindet.

Natürlich ist die Geschichte der 1819 gegründeten jüdischen Gemeinde in Hagen nicht denkbar ohne die Verfolgung im Nationalsozialismus. Unter dem Hitler-Regime wurden mindestens 150 Hagener Bürger, weil sie Juden waren, in Vernichtungslagern ermordet – an einige von ihnen erinnern Stolpersteine.

In Israel geboren

Andere Glaubensgenossen wanderten aus, wurden zur Aufgabe ihrer Geschäfte gezwungen und auf jede denkbare Weise terrorisiert. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstörten die Nazis die Synagoge. Trotz all der Schrecken erfolgte bereits 1946, ein Jahr nach Kriegsende, die Wiedergründung der Gemeinde. 1960 wurde in der Potthofstraße eine neue Synagoge eingeweiht.

Hagay Feldheim, der in Israel geboren wurde, dessen Eltern jedoch aus Breslau bzw. Fulda stammten und die der Nazi-Vernichtung durch ihre Flucht gerade rechtzeitig entkamen, hat sich die Frage nie gestellt, ob es moralisch erlaubt sei, in das „Land der Mörder“ zu ziehen: „Für meine Eltern war es furchtbar, dass ich ausgewandert bin. Aber ehrlich gesagt, mich lockte die Aussicht, in Deutschland studieren zu können.“

Im Kibbuz aufgewachsen

Daraus wurde allerdings nichts. Während seine Frau eine Stelle als Lehrerin in Hagen fand, wurde ihr Mann bald zum Kantor der Synagoge und Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde – ein Ehrenamt, für das er lediglich die Spesen erstattet bekommt. Eigentlich ist Feldheim ein ausgebildeter IT-Spezialist. Er wuchs in einem Kibbuz auf, einer jener ländlichen Siedlungen mit gemeinsamem Eigentum und sozialistischem Charakter, die Israel bis heute prägen. Dort schrieb er nicht nur Computerprogramme für lernbehinderte Kinder, sondern musste auch in der Landwirtschaft mit anpacken und an der Spülmaschine im großen Speisesaal seinen Dienst versehen: „Das ist im Kibbuz angesehener als eine akademische Ausbildung“, erinnert sich Feldheim. Besonders Treckerfahren sei eine prestigeträchtige Arbeit gewesen. Auch wer als Mathematikprofessor aus Harvard in einen Kibbuz ziehe, müsse dort die Toiletten saubermachen.

Zum Glauben seiner Väter fühlte sich Feldheim schon als Kind hingezogen. Als er zehn war, stand er ein Jahr lang jeden Morgen um 5 Uhr mit seinem Vater auf und nahm an religiöser Unterweisung teil: „Freiwillig, nicht weil mein Vater mich dazu genötigt hätte“, sagt er. Zur Belohnung bekam der kleine Hagay seine eigene Talmud-Ausgabe geschenkt. Um den Talmud studieren zu können, musste er Aramäisch lernen, die Sprache Jesu’. Hebräisch, die Sprache der Bibel, ist seine Muttersprache. Was den Menschen Hagay Feldheim aber vor allem auszeichnet, sind sein Gemeinschaftssinn und seine Toleranz: „Als orthodoxer Jude muss man tolerant sein. Sonst ist man nicht orthodox.“

Hochzeit ist göttliches Gebot

Feldheim begleitet die jüdischen Gemeindemitglieder von der Geburt bis zum Tod. Allerdings darf er, anders als ein Rabbiner, wie die besonders gelehrten und weisen Juden genannt werden, keine Heiratsurkunden ausstellen. Die Hochzeit gilt den Juden als göttliches Gebot, der unverheiratete Mensch wird als unvollkommen betrachtet. Auch Beschneidungen darf Feldheim nicht durchführen. Auf diesen uralten Brauch würden heutzutage leider immer mehr Eltern verzichten, berichtet er: „Und ich möchte niemandem meine Sicht der Dinge aufzwingen, das müssen die Eltern entscheiden.“

Dass die Juden das auserwählte Volk Gottes sind, ist auch heute noch ein Glaubensgrundsatz, der allerdings von Feldheim vorurteilslos interpretiert wird: „Christen, Moslems und Gläubige anderer Religionen können ebenso den richtigen Weg zu Gott finden, und zwar als gute Christen, gute Muslime oder gute Andersgläubige.“

Quelle des Glaubens

Die Juden waren vermutlich die erste Religionsgemeinschaft auf Erden, die an nur einen Gott glaubte und eine der ersten, die ihre Religion niederschrieb. Nach jüdischem Glauben hat Gott die Thora, die die Quelle des jüdischen Glaubens darstellt und alle wichtige Fragen zur Religion, zum Volk Israel und zum Alltagsleben beantwortet, vor 3000 Jahren auf dem Berg Sinai direkt an Moses weitergegeben.

Dazu gehören die zehn Gebote und die Gebote der Nächsten- und Feindesliebe ebenso wie die Verhaltensvorschriften am Sabbat, die auch Feldheim und seine Familie Samstag für Samstag befolgen. „Die Thora nennt 39 Tätigkeiten, die am Sabbat untersagt sind“, berichtet er. Schreiben und Backen gehören dazu. Eine große Bandbreite weiterer Gesetze sorgt dafür, dass einem praktizierenden Juden jede kreative Arbeit verboten ist. „Ich sehe das positiv, man kann den Sabbat genießen.“

Sabbat ist Familientag

Der jüdische Ruhetag beginnt stets am Freitagabend genau 19 Minuten vor Sonnenuntergang, wenn Feldheims Frau drei Kerzen anzündet – zwei für den Sabbat und eine für den Sohn. Sich um die Kinder bzw. die Familie zu kümmern ist eine der Pflichten an diesem Tag. „Ehelicher Umgang“ gehört ebenfalls dazu.

Dreimal am Tag wird gut gegessen, denn entgegen landläufiger Meinung wird am Sabbat keineswegs gefastet. Andererseits darf nicht gekocht werden. Wie viele andere orthodoxe Juden beachten Feldheims das Verbot mit Hilfe einer Zeitschaltuhr, die eine Wärmeplatte zur gewünschten Zeit anspringen lässt, die so das am Freitag vorbereitete Essen zur gewünschten Zeit wärmt.

Zunehmender Antisemitismus

Was den Hagener Juden zu schaffen macht und ungute Erinnerungen an die böse Zeit des Nationalsozialismus heraufbeschwört, ist der zunehmende Antisemitismus. Hagay Feldheim traut sich nicht mehr mit der Kippa auf dem Kopf in die Stadt zu gehen, weil er schon mehrfach angepöbelt und wüst beschimpft wurde. Schön sei das nicht, aber eben sicherer, als Jude nicht erkannt zu werden, sagt er.

Traurig, aber wahr.