Hagen..

Es war ein Freitag im Juli 2010, als Richard Dole * zu einem Niemand wurde. Ein Freitag, an dem das Leben des 62-Jährigen auf dramatische Weise aus den Angeln gehoben wurde. Ein sonniger Tag in Kalifornien, an dessen Ende Richard Dole sein Leben zwar behalten, seine Identität aber verloren hatte.

Selbstbewusst, eigenständig, abenteuerlustig – das sind Attribute, mit denen Dole sich wohl selbst stets beschrieben hätte. Hilflos, ohnmächtig, ausgeliefert – so muss er sich in den Wochen und Monaten nach diesem verhängnisvollen Julitag gefühlt haben.

Freitag, 16. Juli 2010: Es ist ein sonniger Tag in Kalifornien. Richard Dole plant mit Freunden auf hoher See angeln zu gehen. Die Gruppe mietet sich ein Fischerboot und fährt hinaus. Die See ist ruhig, doch plötzlich schlägt das Wetter um. Eine dreimeterhohe Welle erfasst das Schiff und wirft es auf die Seite. „In Kalifornien bist du verpflichtet, nicht nur ein Passdokument mitzuführen“, sagt Dole. Die nahe mexikanische Grenze sorgt wegen der ständigen illegalen Einwanderung für viel Nervosität bei den amerikanischen Sicherheitsbehörden. „Ich hatte meinen Führerschein dabei, meinen Pass und meine Sozialversicherungskarte. Alles, was mich identifiziert. Leider auch alle deutschen Dokumente“, erzählt der 62-Jährige. Nach quälend langen Stunden wird die Gruppe zwar von der Küstenwache gerettet, die Pässe und Kreditkarten bleiben aber ein Raub des Meeres.

Für Richard Dole beginnt eine Odyssee, die ihn bis nach Hagen führen soll. Ins Männerasyl.

In den Tagen nach der Rettung durch die Küstenwache, die vom amerikanischen Fernsehsender ABC News TV übertragen wurde, beschafft sich Dole im Deutschen Generalkonsulat in L.A. einen vorläufigen Reisepassersatz. Für die Ausstellung der endgültigen Papiere, erfuhr er, müsse er nach Deutschland reisen. „Von meiner Bank, bei der ich seit 25 Jahren Kunde bin, habe ich keinen Cent erhalten. Sie sagten mir, sie kennen mich zwar, bräuchten aber dennoch eine Identifikation.“ Dole lieh sich daher Geld für den Flug von seinen Nachbarn – ansonsten mittellos machte er sich auf die Reise.

Reise ging weiter nach Hagen

In Deutschland angekommen, zog es ihn zunächst nach Hamburg. „Dort wohnte mein letzter alter Freund aus Deutschland. Er war aber mittlerweile verstorben“. Dole ging zur Hamburger Diakonie, in der Hoffnung, dort Hilfe zu erhalten. Er konnte in einem Wohncontainer der katholischen Kirche übernachten. „Es stellte sich aber nach vier Wochen heraus, dass ich meine Papiere nur dort erhalte, wo ich zum letzten Mal meinen Pass in Deutschland ausgestellt bekommen habe.“ Das war 30 Jahre zuvor in Hohenlimburg. Mit Hilfe der Diakonie in Hamburg ging die Reise nach Hagen.

Dort traf er im November zum ersten Mal auf Christine Wienstroth, die in der Beratungsstelle für Wohnungslose der Diakonie Mark-Ruhr arbeitet. „Er war uns aus Hamburg schon angekündigt worden. Es war schnell klar, dass für Herrn Dole zunächst nur das Männerasyl bleibt“, sagt sie. Als der 62-Jährige zum ersten Mal das Männerasyl in der Tuchmacherstraße betrat, dachte er: „Das ist die Hölle, in der du jetzt gelandet bist.“

Diakonie vermittelte zwischen den Behörden und Dole

Er, der Abenteurer, der vor 30 Jahren Deutschland verlassen hatte. Der als freischaffender Pilot in Kanada, Alaska und Südamerika gearbeitet hatte. Der gutes Geld verdiente und sich sein eigenes Flugzeug hatte leisten können. Er, der in Los Angeles in gesicherten Verhältnissen lebte, war ganz unten angekommen. Kein Geld, keine Identität und die Unsicherheit, wie es weiter gehen wird.

Christine Wienstroth kennt viele Schicksale. „Manche Menschen“, sagt sie, geraten schleichend in die Wohnungslosigkeit, bei anderen schlägt das Schicksal abrupt zu.“ Bei Richard Dole Knall auf Fall.

Die Diakonie vermittelte monatelang zwischen den Behörden und Dole. „Unsere Aufgabe sehen wir beim ersten Kontakt darin“, sagt Christine Wienstroth, „zunächst die akute Not zu lindern. Daran schließen sich weitere konkrete Hilfen an.“ Beim Zentralen Bürgeramt wurde schließlich die Kopie seines Reisepasses ausfindig gemacht, den Dole vor drei Jahrzehnten beantragt hatte. Einige Wochen später konnte der 62-Jährige wieder einen Ausweis in den Händen halten. „Da habe ich ihn zum ersten Mal über beide Ohren strahlen sehen“, erinnert sich Christine Wienstroth.

Dole musste Arbeitslosengeld II beantragen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern und aus der Wohnungslosigkeit zu entfliehen. Seit Mai hat er wieder eine eigene Wohnung. Jetzt ist er dabei, sich über die Botschaft der USA seine amerikanischen Papiere zu besorgen. „Die Diakonie hat mich wieder aufgebaut“, sagt er. Für November plant der 62-Jährige die Rückkehr in die Vereinigten Staaten. „Dann beginnt dort die Flugsaison für mich.“

Dann hat Richard Dole nach eineinhalb Jahren endlich sein altes Leben wieder, das ihm einst vom Meer geraubt worden war.




* Name geändert.