Hagen. Sie leiden oft im verborgenen: 8100 Kinder und Jugendliche in Hagen erleben den Ausnahmezustand als Normalität: Die Eltern sind krank.
Heute ist Marvins Mutter wieder besonders ausgelassen gestimmt. Fröhlich umarmt sie ihren Sohn und verkündet, was sie am Wochenende alles gemeinsam unternehmen werden: den Zoo besuchen, Eis essen, ins Kino gehen. Doch als es Samstag geworden ist, ist von all den Aktivitäten keine Rede mehr. Teilnahmslos und müde liegt die Mutter auf dem Sofa, eine Schachtel Tabletten liegt auf dem Tisch. „Lasst Mama in Ruhe“, wehrt sie Marvin und seine Geschwister ab: „Mama braucht jetzt wirklich einfach Ruhe!“.
Die Kinder sind solche Situationen schon gewohnt. Immer wieder müssen sie erleben, dass ihre Mutter starken Stimmungsschwankungen unterworfen ist. „Mal geht es ihr total gut und kurz darauf total schlecht“, beschreibt Marvin (11) die unberechenbare Gefühlswelt seiner Mutter.
In den Phasen, in denen sie sich zurückzieht, spricht sie nicht mehr mit den Kindern. Dann muss sich Marvin um seine jüngeren Geschwister kümmern, ihnen etwas zu essen machen und sie ins Bett bringen.
Insgesamt schätzt Jennifer Anders, Sozialarbeiterin vom Blauen Kreuz, die Zahl der von einer Sucht oder psychischen Erkrankung ihrer Eltern betroffenen Kinder und Jugendlichen in Hagen auf 8100. In ganz Deutschland sind es laut einer Studie der Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler drei Millionen. Das Phänomen durchzieht alle sozialen Schichten.
Mit dem Projekt Drachenherz hat das Blaue Kreuz eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche sucht- und psychisch erkrankter Eltern geschaffen. „Wir bieten den Kindern einen geschützten Raum, in dem sie das Familiengeheimnis lüften können“, sagt Anders. Das sei wichtig, denn im Alltag versuchen die Kinder zu verhindern, dass etwas über die Erkrankung der Eltern nach außen dringt. Sie kapseln sich ab, fühlen sich unverstanden, allein gelassen und isolieren sich von ihrem Umfeld.
Wöchentlich stattfindende Gruppentreffen
Umso wichtiger sind die wöchentlich stattfindenden Gruppentreffen des Drachenherzprojektes, in denen die Kinder auf Gleichaltrige treffen, die daheim ähnliche Erlebnisse durchmachen müssen, und in denen sie sich ihre Sorgen von der Seele reden können. In diesem vertrauensvollen Umfeld lernten die Kinder, die durch die familiären Probleme Scham- und Schuldgefühle aufbauen, ihren eigenen Fähigkeiten wieder zu vertrauen, so Jennifer Anders: „Sie erfahren, dass sie in Ordnung sind und können als gleichwertiger Teil der Gruppe einen Zugang zu sich selbst finden. Das ist wichtig für ihr Seelenleben, das sonst völlig auf der Strecke bleibt.“
Auch Zuverlässigkeit ist ein Faktor, der die Gruppenatmosphäre vom Alltag der Kinder und Jugendlichen unterscheidet. „Bei uns wissen sie, wie die Treffen ablaufen, sie werden nicht überrascht“, berichtet Heilpädagogin Maike Hammer. Zu Hause würden sie dagegen oft mit unvorhersehbaren Situationen konfrontiert, denn die Sucht oder Erkrankung der Eltern geht nicht selten mit häuslicher Gewalt einher.
Marvin erzählt zwar, dass seine Mutter ihn noch nie geschlagen habe. Dafür zieht sie sich manchmal apathisch in ihr Schlafzimmer zurück und überlässt ihn und seine Geschwister sich selbst. Dann managt er den Haushalt und die Erziehung der Geschwister – Parentifizierung nennt man dieses soziale Phänomen, in dem Kinder in die Rolle der Eltern schlüpfen. „Im schlimmsten Fall gehen sie auch zum Kiosk und besorgen Nachschub für die alkoholkranken Eltern“, sagt Maike Hammer.
Projekt will präventiv wirken
Rund 30 Prozent der betroffenen Kinder erleiden später selbst psychische Störungen oder entwickeln eine Suchterkrankung. Das Drachenherzprojekt will deshalb vor allem präventiv wirken, Jennifer Anders und Maike Hammer machen den Kindern deutlich, dass sie nicht verantwortlich sind für die Erkrankung ihrer Eltern. „Wir erleben häufig, dass sie sich die Schuld an den Verhältnissen zu Hause geben und überlegen, was sie tun können, damit es Mama oder Papa besser geht“, sagen die beiden Projektkoordinatorinnen.
An solchen Gedanken kann ein Kind verzweifeln. „Dem wollen wir entgegenwirken, damit aus den Kindern einmal gesunde Erwachsene werden.“ Denn Kinder haben doch eigentlich ein Recht auf eine heitere und sorglose Kindheit.