Hagen. Die Corona-Zeit stellt Menschen mit Behinderung in Hagen vor besondere Herausforderungen. Beachtung findet das kaum – meint Nadine Böttcher.
Sie ist selber ein gutes Beispiel. Denn sie hat Angst. Angst um ihre Gesundheit, Angst um ihren Job, Angst vor dem, was einmal kommen mag. Angst zu haben – das ist in Zeiten der Corona-Krise vielleicht gar nicht ungewöhnlich. Aber bei Nadine Böttcher ist das „Angsthaben“ eine Krankheit.
Nadine Böttcher ist Vorsitzende des Werkstattbeirats der Caritas-Werkstatt St. Laurentius. Einer Einrichtung mit drei Standorten in Hagen, in der rund 600 Menschen mit Behinderung arbeiten. Nadine Böttcher arbeitet in der Werkstatt. Und gleichzeitig fühlt sie sich verantwortliche für ihre Kollegen und Freunde.
Klare Aussage wünschenswert
„Die Corona-Krise“, sagt sie, „das ist für uns eine ganz besonders schwere Zeit. Ich habe aber das Gefühl, dass sich darüber niemand wirklich Gedanken macht. Ich würde mir endlich mal eine klare öffentliche Aussage zu Menschen mit Behinderung wünschen.“
Diese Aussagen aber – Nadine Böttcher hat sie bislang nicht gehört. Weder auf Bundesebene noch in der Stadt, in der sie lebt – in Hagen. Und Meinhard Wirth, der Vorsitzende des Behindertenbeirats der Stadt Hagen nickt: „Ich habe den Eindruck, dass die 13 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland schlicht vergessen werden. Aus meiner Sicht zeigt sich in dieser Krise, dass unsere Gesellschaft den Inklusionstest längst noch nicht bestanden hat.“
Inklusion ist das Zauberwort, das Menschen mit Behinderung ein gleichwertiges Leben ermöglichen soll. Festgehalten ist das im Bundesteilhabegesetz, das zum Jahreswechsel 2017 in Kraft getreten ist. Weil aber Papier geduldig ist, gibt es aus Sicht von Betroffenen wie Nadine Böttcher eine große Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Insbesondere dieser Tage.
So wurde beispielsweise zum 17. März sofort ein generelles Betretungsverbot für die Werkstätten erlassen. „Es gibt aber Menschen mit Behinderung, die das alles gar nicht begreifen konnten“, sagt Nadine Böttcher, „ich weiß von Kollegen, die jeden Morgen am Fenster gesessen und darauf gewartet haben, dass sie abgeholt werden.“ Aber der Bus, der sonst kommt, fuhr einfach nicht vor.
Werkstatt ist mehr als Arbeit
„Für viele bedeutet eine Werkstatt nicht nur Arbeit“, sagt auch Meinhard Wirth, „die Werkstatt ist Lebensmittelpunkt. Hier treffen sie Freunde, hier treiben sie Sport.“ Für die Angehörigen habe das bedeutet, dass man plötzlich eine Betreuung hätte sicherstellen müssen. Teilweise sei es sogar jetzt noch so, dass Menschen mit Behinderung die eigenen vier Wände nicht verlassen könnten.
Dazu kommen all die Herausforderungen, die die Werkstätten selbst getroffen haben. „Alle Einrichtungen haben Aufträge, die in dieser Zeit ja trotzdem abgearbeitet werden müssen“, sagt Meinhard Wirth, „dazu brauchte es zusätzliches Personal, das Arbeiten übernommen hat, die sonst die Menschen mit Behinderung erledigt haben.“ Daneben sei auch zusätzliches Personal nötig gewesen, um die Menschen mit Behinderungen daheim oder in Wohnstätten zu betreuen.
Trennwände sind installiert
Immerhin: Das Betretungsverbot ist mittlerweile gekippt. Alltag bedeutet das aber keineswegs. „Auch bei uns gelten ja Hygienevorschriften, die umgesetzt werden müssen“, sagt Nadine Böttcher. Abstände zwischen Arbeitsplätzen müssen eingehalten werden, Trennwände sind installiert.
Hinzu kommen ganz alltägliche Probleme, die kaum zu lösen sind. Beispiel: So sind Menschen, die schlecht oder gar nicht hören können darauf angewiesen, ihrem Gegenüber die Worte von den Lippen abzulesen. Wenn derjenige aber unter einer Schutzmaske spricht – wie soll das funktionieren? Ähnliches gilt für Menschen mit starker Sehbehinderung, die die Mund-Nasen-Partie nutzen, um sich besser zu orientieren. „Dazu kommt, dass es Menschen mit Behinderung gibt, die aufgrund ihrer Einschränkung einfach keine Maske tragen können“, so Wirth, „an dieser Stelle ist Verständnis gefragt und nicht Diskriminierung.“