Fröndenberg. Karl-Heinz Claaßen lebt schon lange in Fröndenberg, aber seinem Heimatort bleibt er verbunden: Eichwalde in der freien Stadt Danzig.

Ein bewegender Moment im Leben des Karl-Heinz Claaßen: 52 Jahre nach seiner Flucht sitzt er wieder auf derselben Bank vor demselben Esstisch, an dem er als kleiner Junge seine Schularbeiten machte. Selbst der alte Kachelofen steht noch genauso im Eck, als seien nur wenige Tage ins Land gezogen. In dem kleinen Örtchen Eichwalde südöstlich von Danzig wurden Karl-Heinz Claaßen und seine vier Brüder geboren. Die Eltern waren wohlhabende Bauern und es fehlte nicht an Gesinde. Sogar ein Kindermädchen und eine Köchin wohnten auf dem Hof. Hier las die Großmutter den fünf Jungen, gemütlich vor dem Ofen sitzend, am Abend Märchen vor. „Eine glückliche Kindheit“, sagt Karl-Heinz Claaßen.

Soldaten marschieren durch das Dorf

Am 1. September 1939 ist diese behütete Kindheit schlagartig vorbei. Um 4 Uhr fährt der Junge aus dem Schlaf, geweckt von einem furchtbaren Knall. Die deutsche Wehrmacht hat zwölf Kilometer entfernt die Grenze nach Polen überschritten und die Polen haben als erste Widerstandsaktion die Brücke bei Dirschau gesprengt. „Jetzt haben wir Krieg“, hört Karl-Heinz die Mutter im Wohnzimmer sagen. Krieg? Der Fünfjährige weiß nicht, was das bedeutet. An den folgenden Tagen blickt der Bauernjunge den deutschen Soldaten hinterher, die auf dem Weg nach Königsberg in Ostpreußen durch sein Dorf marschieren. Eichwalde: Das ist jetzt nicht mehr ein Teil der freien Stadt Danzig, sondern ein Teil des Deutschen Reichs.

Immerhin: Der Vater wird nicht mehr eingezogen. Nach einem doppelten Schädelbasisbruch darf er keinen Stahlhelm tragen. Bis 1943 bekommt der Bauernjunge von den Schlachten im Osten kaum etwas mit. Als die Alliierten einen nahegelegenen Flugplatz angreifen, regnet es, um die Funkfrequenzen zu stören, Lametta vom Himmel – zusammen mit Flugblättern der Alliierten. Darauf zu lesen ein Zitat von Joseph Goebbels aus dem Berliner Sportpalast: „Wollt Ihr den totalen Krieg?“

Flüchtlingstrecks rollen über die Reichsstraße 1 gen Westen

Im Oktober 1944 rollen über die Reichsstraße 1 die ersten Flüchtlingstrecks nach Westen – und der Vater von Karl-Heinz beginnt, die von Pferden gezogenen Mistwagen zu säubern, zu reparieren und mit Planen zu versehen. Karl-Heinz ist jetzt zehn Jahre alt und so richtig versteht er nicht, warum der Vater das tut. Selbst die drei Polen und 18 Ukrainer, als Zwangsarbeiter auf dem Hof verpflichtet, verraten die Fluchtvorbereitungen nicht. Im Januar 1944 hören die Kinder aus dem nahen Marienburg die Artillerie und in der Schule wagt ein Junge zu sagen: „Da schießt der Russ!“ Er handelt sich von der Lehrerin eine Backpfeife ein, garniert mit den Worten: „Damit Du keine Lügen erzählst.“ Karl-Heinz erzählt seinem Vater davon und der kommentiert trocken. „Ab sofort gehst Du nicht mehr in die Schule.“

Noch im selben Monat ergeht der Befehl, den Ort zu räumen. Für den Zehnjährigen bedeutet das erst einmal ein großes Abenteuer. Zusammen mit anderen Flüchtlingen fahren die Claaßens mit ihren Pferdewagen Richtung Dirschau im Westen. Auf einem Landgestüt dürfen sie ein paar Tage rasten, dann geht die Reise weiter – Richtung Norden. Der direkte Weg nach Westen ist längst von russischen Truppen versperrt. Einziger Ausweg: in Danzig über die Ostsee.

„Mein Vater muss eine sehr detaillierte Karte besessen haben, denn wir haben die Außenbezirke von Danzig über viele kleine Nebenstraßen erreicht.“

Karl-Heinz Claaßen
Kriegsflüchtling

Im kleinen Ort Uhlkau kann sich die Familie für mehrere Wochen einrichten, aber am Nachmittag des 8. März sieht Karl-Heinz beim Rodeln in der Ferne laufende Gestalten. Die Russen sind da. In Windeseile packt die Familie – die Zwangsarbeiter im Schlepptau – ihre Habseligkeiten zusammen. In aller Frühe brechen die Claaßens in Richtung Ostsee auf. Obwohl in derselben Nacht die Alliierten begonnen haben, die ehemals freie Stadt zu bombardieren. „Mein Vater“, erinnert sich der 90-Jährige, „muss eine sehr detaillierte Karte besessen haben, denn wir haben die Außenbezirke von Danzig über viele kleine Nebenstraßen erreicht.“

In dem kleinen Ort Bohnsackerweide will der Vater die Familie eingraben und bei Ankunft der Russen die weiße Fahne hissen. Aber dazu kommt es nicht. Wehrmachtssoldaten verstecken die Familie in einem Wald am Ufer der Weichsel – und nehmen die Zwangsarbeiter mit. „Über uns warfen kleine Flugzeuge Splitterbomben ab. Damals sah ich die ersten zerfetzten Menschenleiber.“

Flüchtlinge drängen auf ehemaliges Kreuzfahrtschiff

Die Claaßens retten sich in den Danziger Ostseehafen. Kurz vor dem Osterfest 1945 betreten sie mit den wenigen Habseligkeiten, die sie auf dem Rücken tragen können, das Deck der „Pretoria“, ein ehemaliges Kreuzfahrtschiff. In den Kabinen haben die Soldaten ihre verwunderten Kameraden untergebracht. Die Flüchtlinge drängen sich im Schiffsbauch, knapp oberhalb der Maschinen, die die Schiffsschrauben antreiben. „Mein großer Bruder und ich wollten aber, wenn die Torpedos kommen, nicht unter Deck gefangen sein. Wir haben uns lieber zwischen den Rettungsbooten herumgetrieben und dafür bekam ich von einem Matrosen den Hintern versohlt“, erinnert sich Karl-Heinz Claaßen.

Am 1. April erreicht seine Familie unbeschadet Kopenhagen. Dreieinhalb Jahre müssen die Heimatvertriebenen in einem Internierungslager ausharren, dann dürfen sie ausreisen. In einem kleinen Ort nahe Kaiserslautern finden Sie ein neues Zuhause, bis der ältere Bruder 1957 für sich, die Geschwister und die Eltern in der Nähe von Zweibrücken einen Hof pachten darf. Karl-Heinz wird Werkzeugmacher und zieht zu einer Verwandten ins westfälische Gevelsberg. Er heiratet eine Frau aus Ostpreußen und zieht zwei Kinder groß.

Bis heute erinnert ihn der vorweihnachtliche Geruch von Pfeffernüssen und Pfefferkuchen an seine Heimat . „Den Ort seiner Kindheit – den vergisst man nie“, sagt er. Seine Eltern haben Danzig und Eichwalde niemals wieder gesehen. „Mein Vater hätte das nicht verkraftet.“