Gevelsberg. Sie soll Jahre lang Fälle nicht bearbeitet haben und versucht haben, dies zu vertuschen. Prozessbeginn gegen eine Richterin aus Gevelsberg.
Wer den Saal des Hagener Landgerichts betritt, spürt sofort, dass etwas anders ist als sonst – und das hat nichts mit dem Medienauflauf aus der ganzen Republik zu tun. Der Small-Talk unter den Juristen fehlt. Die Kammer um den Vorsitzenden Richter Christian Potthast trägt ernste Minen, ist maximal konzentriert. Auch für sie geht es hier um mehr als das alltägliche Justizgeschäft mit Urteilen oder Freisprüchen. Denn am Ende dieses Verfahrens wird nicht nur das Strafgesetzbuch ein Gradmesser für dessen Ausgang sein; hier geht es elementar um das Vertrauen der Menschen in die deutsche Gerichtsbarkeit. Denn angeklagt ist jemand aus den eigenen Reihen.
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Die Vorwürfe gegen die Richterin, die Straf- und Familiensachen bearbeitet hat, wiegen schwer. Die 37-jährige Gevelsbergerin soll Urteile nicht geschrieben, Fälle nicht bearbeitet haben. Um dies zu vertuschen soll sie Akten mit nach Hause genommen und in ihrem Keller in einen Umzugskarton gepackt haben, diverse Rückdatierungen vorgenommen haben, um vorzutäuschen, gesetzliche Fristen eingehalten zu haben. Die beiden Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, die strafrechtlich am schwersten wiegen: Die Richterin, die am Amtsgericht in Lüdenscheid tätig war und krank geschrieben ist, seit die Ermittlungen gegen sie begannen, soll in einem Fall ein Urteil nachträglich gefälscht haben, um einen formalen Fehler zu verschleiern. Außerdem soll sie die Akten in einem falschen Fach deponiert haben, um ein Fristversäumnis den Kollegen der Geschäftsstelle des Lüdenscheider Amtsgerichts in die Schuhe zu schieben.
Kein roter Faden erkennbar
Die Folgen ihres Verhaltens haben „erheblichen Schaden“ angerichtet, wie der Vorsitzende Richter betonte. Verhinderte Revisionen, verhinderte Berufungen, eine lange U-Haft-Zeit, fehlende Klarheit bei einer Kindeswohlgefährdung, Menschen, die zu wenig Unterhalt bekommen haben, andere die zu viel gezahlt haben.
Bereits zum Prozessauftakt am Dienstag ist klar: Eine einfache Erklärung für das Verhalten der 37-Jährigen, gibt es nicht – und ob überhaupt rational nachvollziehbare Gründe für die Anklagepunkte, die einen Zeitraum von 2016 bis 2020 abdecken, herausgearbeitet werden können, scheint zumindest zweifelhaft. An zu vielen Stellen fehlt ein roter Faden im Handeln der Richterin.
Die hatte nach ihrem Abitur ohne große Probleme ihr Jurastudium abgeschlossen, beide Staatsexamen hinter sich gebracht und im Jahr 2013 ihren Richterdienst angetreten – am Landgericht in Hagen. Über die Amtsgerichte in Olpe und Plettenberg landete sie schließlich in Lüdenscheid. Dort war sie seit einigen Jahren zu etwa zwei Dritteln für Familiensachen und zu einem Drittel für Strafsachen zuständig. „Grundsätzlich habe ich einen hohen Anspruch an meine Arbeit“, sagte sie und betont, ihre Aufgaben stets zügig bewältigt zu haben. „Dann habe ich bei gewissen Akten eine Blockade entwickelt, sie auf die Seite gelegt, um sie später abzuarbeiten. Daraus wurde dann ein viel später.“ Seit mehr als einem Jahr arbeite sie mit ihrem Therapeuten wöchentlich ihr berufliches Fehlverhalten auf. Dabei sei herausgekommen, dass sich diese Blockade immer mehr verfestigt habe. Die Akten wanderten in eine Tasche, diese kam mit nach Hause, unerledigt landeten die Schriftstücke in einem Umzugskarton im Keller. „Ich habe nicht darüber nachgedacht, was das für Folgen hat. Ich wollte niemals jemandem schaden“, sagt die Gevelsbergerin.
Psychologische Begutachtung folgt
Auf Nachfrage des Sachverständigen Dr. Nikolaus Grünherz, der die Richterin im Rahmen des Prozesses noch begutachten wird, teilte sie mit: „Ich bin nicht überfordert gewesen, das waren keine besonders schweren Fälle, die ich jede Woche verhandelt habe.“ Ein Sachverhalt, der auch Richter Christian Potthast – durch seine Tätigkeit am Amtsgericht in Wetter vor seiner Stelle am Hagener Landgericht ebenfalls im Familienrecht bewandert – stutzig werden ließ. „Da sind ja Sachen bei, die hat man in fünf Minuten zusammengeklöppelt.“ Warum diese Fälle? Die hätte sie auch nach vielen Sitzungen mit ihrem Therapeuten nicht ergründen können, sagte die 37-Jährige, die den überwiegenden Teil der 14 angeklagten Fälle gestand – die beiden strafrechtlich schwerwiegendsten Anklagepunkte jedoch nicht. An die Urkundenfälschung des Urteils fehle ihr jegliche Erinnerung, und sie habe niemals Akten in falschen Ablagen versteckt.
Ebenso unverständlich aus Sicht der Richter, die nun über ihre Kollegin befinden müssen, ist, dass diese niemandem ihr Problem mitgeteilt hat: „Dies hätte doch keine dienstlichen Auswirkungen gehabt, wenn Sie offen gesagt hätten: ,Hoppla, den hätte ich ja gar nicht verurteilen dürfen’ oder ,Mein Dezernat ist abgesoffen.’“ Die Angeklagte verwies erneut auf ihre Komplett-Blockade. Auf den Hinweis der Staatsanwältin, es gehe schließlich nicht nur um eine Nichtbeachtung sondern um gezielte Manipulation sagte sie: „Wenn ich dazu gezwungen war, habe ich alles getan, um mich den Akten nicht stellen zu müssen. Das war dämlich.“
Ob sie jemals wieder in ihren Beruf wird zurückkehren können, scheint in höchstem Maße zweifelhaft. Bei einer Verurteilung in allen Anklagepunkten könnten sie im schlimmsten Fall bis zu zehn Jahre Haft erwarten. Eine Aufgabe, mit der sich in einem Prozess, der schon anders begann als üblich, die eigenen Kollegen beschäftigen müssen.