Schwelm. Seit Wochen finden Veranstaltungen von Impfgegnern in Schwelm statt. Szene entwickelt sich rasant. Polizei muss Einschätzung ändern.
Die Impfgegner machen auch im südlichen Ennepe-Ruhr-Kreis mobil. Vor allem Schwelm hat sich zum Zentrum der Spaziergänge und der lokalen Szene entwickelt. Mittlerweile ziehen deutlich mehr als 100 Menschen wöchentlich etwa eine Stunde durch die Innenstadt. Reden werden gehalten. Hat die Polizei die Veranstaltungen zunächst fälschlicher Weise als private Treffen eingeschätzt, hat sich die Lage seit Mittwoch deutlich geändert. Auch der Staatsschutz hat ein waches Auge auf Schwelm und Gevelsberg. Die Organisatoren und Teilnehmer sprechen von sich selbst als „Widerstand“.
Die Spaziergänge
Als der erste Spaziergang in Schwelm begann, liefen etwa 30 Leute über den Weihnachtsmarkt am 10. Dezember. Seitdem hat sich der Zulauf deutlich gesteigert. Mehr als 100 Menschen sind mittlerweile unterwegs. Auf der Treppe des Märkischen Platzes werden Ansprachen gehalten: „Wir müssen das Spaltungsnarrativ von Politik und Medien beenden.“ Einmal wöchentlich laufen diese als Spaziergänge deklarierten Protestmärsche in Schwelm. Sogar Ausweichtermine wegen der Feiertage werden organisiert. In Gevelsberg nimmt die Szene seit einigen Tagen ebenso Fahrt auf.
Die Teilnehmer
Die Menschen, die bei den Spaziergängen mitlaufen, können nicht über eine Kamm geschoren werden. Organisiert über Facebook und Telegram finden sich bei den Spaziergängen in Schwelm die Familie, die ihren Kinderwagen durch die Stadt schiebt und einfach die Nase voll hat von den Maßnahmen, Menschen die schlicht Angst vor der Impfung haben, verdrehte Esoteriker aber auch vermehrt Menschen, die ideologisch getrieben sind, bis hin zu bekannten Gesichtern der rechtsextremen Szene.
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Mit einer Tasse vor dem Bauch als Erkennungszeichen laufen sie durch die Fußgängerzone, viele unterhalten sich, man stimmt sich gegenseitig zu, redet sich den Frust von der Seele. Doch schon nach wenigen Wochen ist zu erkennen: Der Ton wird ruppiger. Die Teilnehmer bezeichnen sich selbst als „Widerstand“, in den sozialen Medien werden Nachrichten und Videos aus anderen Städten geteilt und gefeiert, in denen beispielsweise die Impfgegner Polizeisperren durchbrechen.
Die Organisatoren
Vor Ort verteilt sich dies aktuell auf wenige Köpfe, die Strukturen sind lose, meist rücken die Administratoren der Gruppe in den sozialen Medien qua Amt in die Position der Wortführer. Sie alle propagieren, dass sie die Menschen vereinen wollen, sich gegen jede Form von Ausgrenzung stellen, Gewalt keine Option sei. Das Logo: Ein Herz, in dem sich zwei Hände schütteln, eine mit Spritze darauf, eine mit durchgestrichener Spritze. Aktuell sind die führenden Köpfe darauf bedacht, möglichst viele Menschen zu erreichen, sich mit den Gruppen aus anderen Städten überregional zu vernetzen. Staat, Polizei, Politik und Medien lauten die Feindbilder.
Einer sticht jedoch aus den Reihen gesondert heraus. Der Schwelmer benutzt diverse orthografische Varianten lateinischer und englischer Übersetzungen des Wortes „Wahrheit“. In seinen Videobeiträgen spricht er mit sonorer Stimme, sehr ruhig, das Gesicht entspannt, bedacht darauf, eine väterliche Aura aufzubauen. Seine Beiträge beginnen oft mit den Worten „Ihr Lieben“ er spricht davon, für Menschlichkeit und Zusammenhalt zu werben. Doch ebenso betont er immer wieder „Wir sind noch in der friedlichen Phase.“ Er setzt Ungeimpfte mit den verfolgten Juden im Nationalsozialismus gleich, sagt Sätze wie „Wir sind schon fast wieder in den 1930er Jahren.“
Die Polizei
Die Kreispolizeibehörde Ennepe-Ruhr hatte zunächst einen Streifenwagen in die Schwelmer Innenstadt geschickt, der am Versammlungsort, dem Pilz-Kiosk am Bürgerplatz, mit zwei Beamten stand. Weitere Aktivitäten der Polizei konnten Beobachter der ganzen Sache nicht ausmachen. Diese Zeitung fragte kurz darauf bei der Behörde nach, wollte unter anderem wissen, ob die Spaziergänge als Versammlung eingestuft werden. Antwort der Behörde: „Nach Bekanntwerden in Schwelm und Gevelsberg fanden interne und externe Recherchen statt. Grundsätzlich hat die Polizei diese Spaziergänge im Fokus und ist dahingehend präsent.“
Und weiter: „Die Kreispolizeibehörde stuft die Spaziergänge aktuell als private Zusammentreffen ohne Versammlungscharakter ein, da die Teilnehmer ohne Kundgebung oder sich auf öffentlichen Meinungsbildung abzielenden Zweck, verabreden.“ Um so verwunderlicher war es, dass der Rädelsführer vor dutzenden Menschen eine Rede hält, sich deutlich gegen Politik und Medien positioniert. Laut Grundgesetz liegt eine Versammlung vor, wenn sich mindestens zwei Menschen treffen, um öffentlich politische Willensbildung zu betreiben. Und das soll hier nicht vorgelegen haben? Offenbar sehr wohl doch, dies soll aber von den Beamten vor Ort falsch eingeschätzt worden sein. Pressesprecherin Sonja Wever spricht von einem „internen Übermittlungsfehler.“ Man habe sich nun intensiver mit den Spaziergängen beschäftigt.
Ergebnis: Die Polizei hat ihre Einschätzung komplett geändert: „Die Spaziergänge werden selbst bei unauffälligem Verhalten der Teilnehmer in der Öffentlichkeit mittlerweile deutlich wahrgenommen. Dies liegt daran, dass sie vermehrt auch in den Nachbarstädten und bundesweit in verschiedenen Ausgestaltungen stattgefunden haben und immer offener beworben werden.“ Sie seien somit faktisch als Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung nicht mehr zu übersehen und als Versammlungen zu werten. Dementsprechend werde die Polizei Versammlungsrecht anwenden. Heißt: Die Versammlungen müssen 48 Stunden vor deren Bekanntgabe angemeldet werden. „Dies ist für den Schutz der Versammlung wichtig, was beispielsweise Verkehrswege oder Straßensperren und mögliche Gegendemos anbelangt, sowie für den Schutz Dritter“, sagt Sonja Wever.
Für die Veranstaltung am vergangenen Mittwoch ist Anzeige gegen Unbekannt ergangen wegen einer nicht angemeldeten Versammlung. Die Polizei hatte ihre Präsenz deutlich verstärkt. Die Spaziergänger hatten sich in der Stadt aufgeteilt. Hierzu hat der Staatsschutz wegen des politischen Hintergrunds die Ermittlungen aufgenommen.
Der Staatsschutz
Bereits vor der lokalen Polizei ist der Staatsschutz auf die Szene im EN-Kreis aufmerksam geworden. Ramona Arnhold, Pressesprecherin des Polizeipräsidiums Hagen, bei dem die Staatsschützer angesiedelt sind, betont, dass einzelne Personen nicht erkennbar herausstechen würden, sondern vielmehr gesellschaftliche Gruppierungen und Strömungen. „Personen des bürgerlichen Spektrums finden sich hier ebenso wie Personen des politisch rechten Spektrums sowie Reichsbürger und Esoteriker. Die Querdenkerszene ist eine sehr heterogene Mischgruppe. Eine personelle Hierarchie ist dabei aktuell nicht zu erkennen“, so die Polizeisprecherin weiter.
Das ist aber wohl nur eine Momentaufnahme, denn die Entwicklung in der Szene, insbesondere bei den Organisationsstrukturen und der fortschreitenden Vernetzung sind rasant. Zu erkennen, dies betont Arnhold, seien organisatorische Zentralisierungstendenzen in Form einer Messenger-Gruppe, die sämtliche Spaziergänge in NRW auflistet und bewirbt: „Daraus ergibt sich eine überregionale Aktivität der Spaziergänger. Das heißt: Nicht nur die regionale Bevölkerung einer Stadt trifft sich zu den Spaziergängen, sondern auch Bewohner umliegender Städte und Regionen; die einzelnen Versammlungen unterstützen sich gegenseitig personell.“