Essen. Frauen werden immer häufiger Opfer von Gewalttaten, zeigt ein Lagebild des Bundeskriminalamts. Was Betroffene erleben, ist erschütternd

Es war der 29. Januar 2024, an dem Maria sich dachte: „Wenn ich jetzt nicht gehe, dann werde ich sterben.“ Sie hatte kaum noch Kraft im Körper, fühlte sich wie benebelt. Zuvor hatte er sie mit dem Kopf auf den Fliesenboden im Badezimmer geschleudert. Anschließend zog er sie zum Sofa und drückte ihr seine Hände auf die Kehle. Und als sie ihrer kleinen Tochter mit letzter Kraft zurief, sie solle in ihr Zimmer gehen, presste er ihr ein Kissen aufs Gesicht. „Plötzlich wusste ich, dass er mich umbringen wollte“, sagt Maria.

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Die zweifache Mutter aus NRW lebte mehrere Jahre in einer Beziehung, die von Gewalt geprägt war. Beschimpfungen und Schläge durch ihren Ex-Mann waren Alltag für sie. Trotzdem kehrte sie immer wieder zu ihm zurück. Ihre Geschichte zeigt, wie schwierig es für Betroffene ist, einen solchen Teufelskreis zu durchbrechen. Angst und Scham spielen dabei eine große Rolle. Und sie zeigt auch, dass Partnerschaftsgewalt nicht automatisch mit einer Trennung endet. Marias Geschichte ist eine von vielen.

Die Gewalt trifft überwiegend Frauen

Die Zahlen von häuslicher Gewalt steigen kontinuierlich an, in den letzten fünf Jahren um knapp 20 Prozent. 167.865 Menschen waren im vergangenen Jahr in Deutschland von Partnerschaftsgewalt betroffen – ein Anstieg um 4,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das zeigt ein umfassendes Lagebild des Bundeskriminalamtes. Ganz überwiegend trifft die Gewalt Frauen: Knapp 80 Prozent der Opfer sind weiblich. Die Dunkelziffer dürfte laut Experten weitaus größer sein. In Deutschland versucht jeden Tag ein Mann, seine Frau zu töten, sagen Statistiken. 155 Frauen sind 2023 von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet worden.

Wie der erstmals erstellte BKA-Lagebricht zeigt, wurden 2023 360 Frauen getötet, weil sie Frauen waren - also etwa aus Frauenhass, wegen einer Trennung oder im Kontext eines patriarchalischen Gesellschaftsbilds des Täters. Solche Taten werden als Femizide bezeichnet. In weiteren 578 Fällen kam es zu einem versuchten Tötungsdelikt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nannte die Situation am Dienstag bei der Vorstellung des BKA-Lageberichts „unerträglich“, Bundesfrauenministerin Lisa Paus (Grüne) bezeichnete die Zahlen als „beschämend“.

Maria sitzt mit überkreuzten Beinen und zittrigen Händen in einem Café im Ruhrgebiet und nippt an ihrer Cola Light. Ihr Blick wandert unruhig hin und her, ihre Stimme bricht an einigen Stellen, während sie erzählt. Die 30-Jährige heißt anders. Zu ihrem Schutz wird sie in diesem Text anonym bleiben. Wir haben Marias Ex-Partner über seinen Anwalt zu den Vorwürfen befragt und um eine Stellungnahme gebeten. Bis Redaktionsschluss für diesen Text hat er sich nicht geäußert. Damit können wir nur Marias Perspektive erzählen. Wir können nicht überprüfen, ob sich all ihre Schilderungen genau so zugetragen haben. Fest steht aber: Die ermittelnde Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung, Bedrohung und Beleidigung gegen ihren Ex-Partner erhoben.

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„Mein Mann wurde von jetzt auf gleich ein anderer Mensch“

Kennengelernt haben sich die beiden in der Schule. Schon immer haben sie sich gut verstanden, erzählt sie. Nach der Schulzeit verloren sie sich aus den Augen – bis sie sich zufällig auf der Straße wieder trafen. Und sich ineinander verliebten. Da war Maria gerade 20. Die Beziehung war anfangs das, wovon sie immer geträumt hatte. „Sie war geprägt von Liebe, Nähe und Verständnis“, sagt Maria heute. Nach nicht einmal einem Jahr wurde sie schwanger. Für sie die schönste Zeit ihres Lebens. Doch mit fortschreitender Schwangerschaft kamen die ersten Beziehungsprobleme. Sie musste in ihrem Job kürzer treten, er verlor seinen Ausbildungsplatz. Dem Paar ging das Geld aus. „Und mein Mann wurde von jetzt auf gleich ein anderer Mensch.“

Plötzlich gab es andauernd Streit, ihr Mann ging wegen jeder Kleinigkeit „an die Decke“. Als sie im sechsten Monat schwanger war, sei ihm zum ersten Mal „die Hand ausgerutscht“, erinnert sich Maria. „Ich hatte 20 Euro aus der gemeinsamen Spardose genommen, um einen Strampelanzug für unser Baby zu kaufen. Als er davon erfahren hat, hat er mir die Spardose gegen den Bauch geworfen. Und als ich mit ihm darüber sprechen wollte, hat er mir eine heftige Ohrfeige gegeben, so dass ich hingefallen bin.“

„Einmal hat er mir so fest auf den Fuß getreten, dass er gebrochen war“

Maria flüchtete aus der gemeinsamen Wohnung, wusste nicht, wie es nun weitergehen sollte. Immerhin erwarteten die beiden ein Kind. „Schließlich hat er sich entschuldigt, mir versprochen, dass es nie wieder vorkommen würde. Ich habe ihm geglaubt – und bin zu ihm zurückgekommen.“

Ein paar Monate sei es gut gegangen, erzählt Maria. Doch dann wurde sie erneut schwanger und ihr Mann wieder gewalttätig. Mit der Zeit wurden die Schläge härter und die Abstände, in denen es passierte, kürzer. „Anfangs hat er mir immer wieder Backpfeifen gegeben, dann hat er mich getreten, auch, als ich schon am Boden lag. Er hat mich an den Haaren durch die Wohnung gezogen, mich gewürgt, mir ins Gesicht geboxt. Einmal hat er mir so fest auf den Fuß getreten, dass er gebrochen war und ich ins Krankenhaus musste. Den Ärzten habe ich gesagt, dass mir etwas auf den Fuß gefallen ist.“

Sie schämte sich für ihre blauen Flecke, zog sich immer mehr von Familie und Freunden zurück. Irgendwann sprach sie mit niemandem mehr über das, was sie zu Hause erlebte. Denn neben den Schlägen machte ihr Mann sie nieder und beleidigte sie. „Er hat immer wieder gesagt, dass ich zu nichts zu gebrauchen bin. Und er hat mich kontrolliert. Ich habe mich so klein gefühlt.“ Erst als ihr damaliger Arbeitgeber sie besorgt zur Seite nahm, brach die junge Frau zusammen und erzählte ihm alles. Kurzzeitig schaffte sie es, sich von ihrem Mann zu trennen. Und kehrte doch zurück. Ihre Stimme zittert: „Man kann es sich vielleicht nicht vorstellen, aber ich habe ihn vermisst. Und ich wollte, dass die Kinder mit einem Vater aufwachsen.“

„Bleib da liegen, dich kriege ich heute noch“

Erst am 29. Januar, an dem Tag, an dem ihr Mann ihr ein Kissen aufs Gesicht drückte, konnte sie sich lösen. Maria erinnert sich daran, wie ihre Tochter geschrien hatte. Und wie ihr Mann dann aufgesprungen sei und die Kleine in ihr Zimmer brachte. Über die Schulter rief er ihr zu: „Bleib da liegen, dich kriege ich heute noch.“ Dass ihr Mann an diesem Tag einen Arzttermin hatte, sei ihre Rettung gewesen, glaubt Maria. Da packte sie mit letzter Kraft ihre Sachen zusammen und fuhr mit den Kindern zur Polizei, um ihn anzuzeigen.

Wie konnte es soweit kommen?

„Gewalt in Beziehungen ist oft ein schleichender Prozess, sie passiert nicht von jetzt auf gleich“, sagt Martina Schmitz vom Dachverband der autonomen Frauenberatungsstellen in NRW. Große Liebesbekundungen und Überhöhung der Partnerin gerade am Anfang der Beziehung, zunehmende Kontrolle und etwa der Versuch, Einfluss darauf zu nehmen, mit wem sich die Frau trifft oder was sie anzieht, grundlose Eifersuchtsanfälle – all das können Anzeichen dafür sein, dass der Mann seine Frau nicht als ebenbürtige Partnerin wahrnimmt, sondern sie als seinen Besitz beansprucht, erklärt Schmitz. Beleidigungen und Schuldzuweisungen lösten häufig Selbstzweifel bei der Partnerin aus.

„Das ist psychische Gewalt, die dazu führen kann, dass die Frau von ihrem Umfeld isoliert wird, ihren Selbstwert verliert und so in eine Abhängigkeit gerät“, sagt Schmitz. Körperliche Gewalt sei dann häufig nur die Spitze des Eisbergs. „Und schnell sind die Frauen in einem Kreislauf der Gewalt gefangen, die Beziehung schlägt immer wieder von besonders schönen Momenten in Gewalt um. Anschließend zeigt der Partner wieder Reue. Und der Kreislauf beginnt von vorne.“

Nach der Trennung begann das Stalking

Maria gelang es auszubrechen. Nach Jahren der Gewalt trennte sie sich von ihrem Mann. Nachdem sie ihn angezeigt hatte, bekam sie Hilfe von der Opferschutzstelle „Weißer Ring“. Für ein paar Tage lebte sie mit ihren Kindern im Hotel. „Ich war so aufgewühlt und musste erstmal zur Ruhe kommen.“

Doch der Alptraum war noch nicht vorbei. Obwohl die Polizei den Mann bei einer sogenannten Gefährderansprache warnte und ein zeitweiliges Näherungsverbot aussprach, akzeptierte er die Trennung nicht. „Als ich wieder zu Hause war, hat er mir gefühlt Tausende Nachrichten geschickt und mich mit Anrufen bombardiert. Außerdem hat er regelmäßig an der Tür geklingelt und einmal sogar mit einer Taschenlampe durchs Fenster geleuchtet. Und er kam zu meiner Arbeit und zur Schule meiner Tochter.“

Häusliche Gewalt
Nach der Trennung begann das Stalking, erzählt Maria. (Symbolbild) © Getty Images | iStock

Das Stalking ging so weit, dass Maria in eine andere Stadt zog. Er drohte ihr, dass er sie „finden“ würde. Eine Zeit lang fuhr Maria deshalb lange Umwege nach der Arbeit, an manchen Tagen wartete sie mehrere Stunden auf einem öffentlichen Parkplatz, um sicherzugehen, dass ihr niemand nach Hause folgte. „Ich habe mich so hilflos gefühlt.“

Maria stützt ihren Kopf auf die Hände. „Irgendwann hat er es herausgefunden. Nachbarn haben beobachtet, wie er vor der Tür stand. Kurz darauf waren meine Autoreifen zerstochen.“ Fast jedes Mal hat Maria ihren Ex-Partner wieder angezeigt, sobald er gegen das Näherungsverbot verstoßen hatte. Doch geändert hat sich mehrere Monate nichts.

Immer mehr Stalking-Fälle registriert

Stalking ist schwer nachzuweisen. Es ist selten eine klar abzugrenzende Einzeltat“, sagt Juliane Bosselmann, Kriminalhauptkommissarin und Opferschutzbeauftrage bei der Polizei in Düsseldorf. Anders als bei der Häuslichen Gewalt sei die Polizei beim Stalking regelmäßig auf die Mitarbeit des Opfers angewiesen.

Deshalb zeigten viele, anders als Maria, ihren Täter auch nicht an. „Sie haben die Sorge, dass die Handlungen des Täters dadurch noch massiver werden und sich keine wirkungsvollen strafrechtlichen Konsequenzen für ihn anschließen.“ Mehr als 23.000 Stalking-Fälle erfasste das Bundeskriminalamt für das Jahr 2023. Das sind knapp zehn Prozent mehr als im Vorjahr.

„Ich möchte endlich Frieden finden“

Schätzungen zufolge liegt die tatsächliche Zahl noch viel höher: So soll es in Deutschland zwischen 300.000 und 800.000 Stalking-Fälle pro Jahr geben. Betroffen sind vor allem Frauen, die Täter zu 80 Prozent Männer. „Den Opfern wird viel zugemutet“, sagt Polizistin Bosselmann. „Um das Stalking nachzuweisen, wird ihnen etwa geraten, ein Stalking-Tagebuch zu führen und immer wieder Anzeigen zu stellen, wenn der Täter zum Beispiel gegen das Näherungsverbot verstößt. Das ist für viele eine Tortur.“

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Maria hat nicht aufgegeben. Sie hat ihren Ex-Partner immer wieder angezeigt. Der Fall wird bald vor Gericht verhandelt. Ihre Hoffnung liegt nun auf dem Ausgang des Prozesses. „Ich möchte endlich Frieden finden.“

  • Opferschützer raten dazu, bei Partnerschaftsgewalt, Vertrauenspersonen einzuweihen. Zudem hilft es, Gewaltsituationen und Stalking in einem Tagebuch zu dokumentieren.
  • Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, können sich schnell und anonym Hilfe beim Verein „Weisser Ring“ suchen.
  • Frauen, die von Gewalt betroffen sind, finden Hilfe zudem bei den Frauenberatungsstellen NRW.
  • Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ können Betroffene unter der Nummer 116 016 rund um die Uhr kostenfrei anrufen.