Herne. Eine furchtbare Diagnose folgte auf die nächste. Den Lebensmut hat die 38-Jährige dennoch nie verloren. Wie sie das schafft.

Man kann mit dieser Frau nicht einfach so durchs Thoraxzentrum Ruhr laufen. „Hallo Michelle“ schallt es von links, „Was führt Sie her, Frau Klemm?“ von rechts. Patienten wie diese Frau sind besondere. Weil sie die furchtbarsten Krankheiten anzuziehen scheinen wie Magnete – und doch strahlend durchs Leben gehen.

„Mit Schmerzen im Knie fing der Albtraum an“, erzählt Michelle Klemm. Da war sie 16. Ein aggressiver Weichteiltumor im Unterschenkel war die Ursache: ein „Synovialsarkom“. Die Ärzte sagten der Gymnasiastin: Du wirst dein Bein verlieren. Und: Du wirst nie schwanger werden (wegen der Medikamente, die sie ihr verabreichten). Das Mädchen wurde dreimal operiert, erhielt eine hoch dosierte Chemotherapie. „Es war das Schlimmste, das ich je erlebt habe“, sagt Klemm heute. Doch es gelang, ihr Bein zu retten. Fünf Jahre später galt sie als geheilt, begann eine Ausbildung.

Ein „Monstertumor“, groß wie ein Handball

2011 bekam sie „wahnsinnige Schmerzen in Rücken und Schulter“. Das Synovialsarkom hatte gestreut. Die Metastase war so groß wie ein Handball und saß im linken Lungen-Oberlappen; „ein Monstertumor“, erklärt Dr. Erich Hecker, Chef der Thoraxchirurgie am Evangelischen Krankenhaus Herne. Er erinnert sich gut an dieses erste Mal, dass ihm Michelle und ihre Mutter gegenüber saßen. Er erzählt, wie groß die Verzweiflung beider gewesen sei, „dass sehr viele Tränen flossen“.

#Fuck Cancer

Warum Vertrauen für Krebspatienten so wichtig ist – darum geht es auch auf einer Patientenveranstaltung des Onkologischen Zentrums Bochum/Herne am 26. November, 15 bis 17.30 Uhr, im Evangelischen Krankenhaus Herne, Wiescherstraße 24. Neben Michelle Klemm und Dr. Erich Hecker wird Prof. Dirk Behringer dabei sein, der Chefarzt der Onkologie der Bochumer Augusta-Klinik. Auch er hat Michelle Klemm schon behandelt.

Fast fünf Stunden operierten der Chirurg und sein Team die Patientin, Hecker berichtet, wie kompliziert der Eingriff war; und Klemm: wie viele Schläuche danach in ihr steckten. Sie kann nicht erklären, warum sie so schnell so großes Vertrauen in diese Klinik, diesen Arzt fasste. Aber sie weiß: Es war entscheidend dafür, dass sie all das Schlimme, was ihr noch widerfuhr, überstand. „Hier war immer jemand, der mir die Angst genommen, der sich gekümmert hat.“

Und dann schon wieder, eine Metastase

Zum Beispiel, als sie zum Nachsorge-Termin, drei Monate nach der OP, ohne ihre Mama erschien, die sie sonst immer begleitete. Es schien ja alles gut. War es aber nicht. Zwischen Milz, Zwerchfell und Rippen hatte sich eine neue Metastase angesiedelt, zeigten die CT-Bilder. Und als Michelle Klemm das nach der Untersuchung erfuhr – hielt ihre Mutter ihre Hand. „Aynur und Inge hatten sie heimlich angerufen. Sie wussten, sie würde mir helfen, die Nachricht zu verkraften“, erzählt Klemm. Die beiden Pflegekräfte seien seither ihre „Lieblingsschwestern“. Es sind ihre „Begleitmütter“, sagt Hecker.

Eine ungewöhliche Krebspatientin
„Lieblingsschwester“ Inge, Michelle Klemm und Erich Hecker im Thoraxzentrum Ruhr, das zum Evangelischen Krankenhaus Herne gehört. Dieses Trio hat eine ganz besondere Beziehung. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Chemotherapie, Bestrahlung und eine Operation besiegten auch diesen Tumor. Michelle Klemm heiratete, fand Arbeit als Angestellte im öffentlichen Dienst – und bekam unerwartet ein neues „Problem“, ein Baby. Sie, die angeblich nie schwanger hatte werden können. Freund Dirk, der heute ihr Mann ist, freute sich mit ihr, aber beide ahnten: Das wird gefährlich, bei der Vorgeschichte.

„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich schwanger werde?“

„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich schwanger werde?“, fragte Klemm also den Arzt ihres Vertrauens, einen Thoraxchirurgen. Passiere nicht so oft, räumt Hecker ein. Das Risiko dieser Schwangerschaft für Mutter und Kind habe er seiner Patientin nicht verheimlicht. Er habe aber auch verstanden, dass diese junge Frau wollte, „dass ein Teil von ihr auf jeden Fall weiterlebt“. Er besprach sich mit Gynäkologen und Onkologen; am Ende hieß es: „Mutig, aber okay!“ Heute ist Michelle Klemm Mutter zweier gesunder Töchter, acht und elf Jahre alt. Gleich nach der Geburt hat sie sie im Thoraxzentrum „vorgestellt“.

Das Sarkom hat nie wieder „Ärger“ gemacht. Der Krebs ist besiegt. Doch es folgten neue, schreckliche Diagnosen. 2019 wurde bei Klemm die Autoimmunerkrankung MaltiGg4 festgestellt, die Lymphknoten im Hals gewaltig anschwellen lässt; und 2023 ein „Kavernom“, eine Gefäß-Missbildung im zentralen Nervensystem. Warum? Das ist unklar. Beide Erkrankungen sind – wie das Sarkom extrem selten – und alle drei haben nichts miteinander zu tun.

„Wenn er ja sagte, hab ich mich drauf eingelassen“

Und sie fallen definitiv nicht ins Gebiet der Thoraxchirurgie. Doch egal, ob es um das Cortison ging, das Michelle Klemm nehmen sollte, oder um die OPs, die ihre Hirnblutungen stoppen sollte, immer wieder bat sie Hecker um Bestätigung, dass das die richtige Therapie war. „Wenn er ja sagte, hab mich drauf eingelassen“, sagt Klemm.

Der Hals ist inzwischen abgeschwollen, das Karvernom geschrumpft – und dass man ihr kürzlich wegen der vielen Myome darin die Gebärmutter entfernen musste, erwähnt Michelle Klemm nur nebenbei. „Es geht mir heute richtig gut“, sagt sie. Und so sieht sie auch aus. Wie schafft man das? Immer wieder aufstehen, immer wieder kämpfen, und nicht verzweifeln? 17 Operationen hat die 38-Jährige hinter sich, „plus Chemo, plus Bestrahlungen“.

„Sie ist für uns alle hier ein ganz besonderer Fall“

„Es ist nicht so“, sagt die zweifache Mutter, „als ob ich nie Angst oder Zweifel hätte. Manchmal denke ich schon darüber nach, wann wohl der vierte Tumor kommt... Aber ich bin ein Meister im Verdrängen. Tränen bringen mich nicht weiter.“ Im Übrigen: Schluss jetzt, so was Besonderes sei sie ja nun nicht.

Erich Hecker, Chefarzt der Thoraxchirurgie blickt am Donnerstag 16. Oktober 2024 am evangelischen Krankenhaus in Herne in die Kamera des Fotografen. Sie begleiten eine Krebs-Patientin, die viele gesundheitliche Schicksalsschläge hinnehmen musste.  Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services

„Jeden Patienten, den wir behandeln, versuchen wir als Ganzes zu sehen.“

Dr. Erich Hecker

Ist sie doch, findet Erich Hecker, an dessen Klinik jährlich 14.000 Patienten und Patientinnen ambulant behandelt und weitere 2000 operiert werden. Nicht zu allen bestehe eine so enge Beziehung wie zu Michelle, die er bald 14 Jahre kennt. Nicht jeder hat seine private Telefonnummer, über die er „24/7“ zu erreichen ist. „Michelle Klemm ist für uns alle hier ein ganz besonderer Fall“, sagt Hecker. „Aber jeden Patienten, den wir behandeln, versuchen wir als Ganzes zu sehen. Dazu gehört, dass wir die Nachsorge managen.“

„17 OPs, die alle glattgehen …“

Hecker sagt, zu erkennen, „was muss, das muss“, sei Klemms herausragende charakterliche Qualität. Andere Patienten blockiere die eigene Angst. Das stabile Umfeld, die Eltern, der Mann, hätten geholfen. Aber sicher habe diese Patientin auch eine dicke Portion Glück gehabt: „17 OPs, die alle glattgehen...“.

Michelles Mama kommt schon lange nicht mehr mit, wenn ihre Tochter den Arzt ihres Vertrauens besucht. „Richten Sie ihr liebe Grüße aus“, sagt Hecker beim Abschied.