Ruhrgebiet. Eigentlich sollten Tausende Menschen in NRW verhaftet werden, doch ihre Haftbefehle werden nicht vollstreckt. Was kann man tun?

Mehr Haftbefehle bleiben offen in NRW. In 27.613 Fällen sollen Menschen aktuell verhaftet werden, sie sind es aber noch nicht. Das bedeutet einen Anstieg um 12,8 Prozent seit Anfang 2023, also innerhalb von 20 Monaten. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr davor stieg die Zahl nur um 1,7 Prozent. Dies berichtet das NRW-Innenministerium für die Sitzung des Rechtsausschusses am Mittwoch.

Mehr als die Hälfte der Fälle (14.576) betrifft nicht gezahlte Geldstrafen, für die dann als „Ersatz“ eine Freiheitsstrafe droht. Aber von allen Haftbefehlen betreffen immerhin: 

  • 611 Sexualstraftaten,
  • 319 Mord,
  • 317 Totschlag und
  • 35 Menschenhandel, Zwangsprostitution oder Geiselnahme.

Hinzu kommen insgesamt 313 offene Haftbefehle für politisch motivierte Kriminalität. Da sich Haftbefehle für verschiedene Taten auch überschneiden können, verteilen sie sich auf 259 mutmaßliche Straftäter. Von diesen betreffen 

  • 92 religiöse Ideologe,
  • 79 rechte Ideologie-,
  • 11 linke Ideologie,
  • 31 ausländische Ideologie
  • 3 werden wegen Spionage gesucht,
  • und der Rest verteilt sich auf Sonstiges.

Tatsächlich geht aus diesen Zahlen aber nicht hervor, ob nun mehr gesuchte Schwerverbrecher herumlaufen oder ob vielleicht einfach deutlich mehr Menschen ihre Bußgelder und Geldstrafen nicht bezahlen (oder beides). Das Innenministerium konnte dies auf Nachfrage bis Redaktionsschluss nicht klären. Die Gesamtkriminalität stieg jedenfalls nicht so stark an (+3,4 Prozent) wie die der offenen Haftbefehle. Klar ist aber, dass die aktuelle Zahl weiter deutlich unter dem Niveau vor der Pandemie liegen (2019: 32.905 offene Haftbefehle).

„Wir brauchen einen Einsatztrupp Fahndung“

„Es sind zu viele offene Haftbefehle“, sagt Michael Mertens, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Wir brauchen wieder einen Einsatztrupp Fahndung bei der Kriminalpolizei.“ Der sei schon vor längerer Zeit abgeschafft worden. „Wir hatten einen extremen Personalabbau aus Kostengründen. Die spezialisierten Fahnder hatten gute Verbindungen, auch durch solche Hinweise sind Festnahmen gelungen. Es ist tatsächlich sogar vorgekommen, dass sie Gesuchte geschnappt haben, die zur Beerdigung einer Milieugröße erschienen waren.“

Michael Mertens.

„Wenn im Wach- und Streifendienst jemand ins Netz geht, ist es eher Beifang. Eine gezielte Fahndung findet kaum noch statt.“

Michael Mertens
Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei

Nun sei die Situation so, erklärt Mertens: „Die Bagatelldelikte werden abgearbeitet von den Bezirksbeamten. Die restliche Fahndung geschieht zum größten Teil im polizeilichen Alltag.“ Doch hier gebe es zu wenig Zeit dafür. „Das heißt: Wenn im Wach- und Streifendienst jemand ins Netz geht, ist es eher Beifang. Eine gezielte Fahndung findet kaum noch statt.“

Eine Handgranate im Auto

Schwerverbrecher allerdings werden weiterhin von Spezialisten gejagt. Die Zielfahnder des Landes- und des Bundeskriminalamtes kümmern sich aber nur um „erhebliche“ Fälle, bei denen alle anderen Mittel ausgeschöpft wurden. Zum Beispiel suchen sie nach dem Dortmunder Fünffach-Mörder Norman Volker Franz, der im Auftrag seiner Bande, drei rivalisierende Schmuggler töten sollte. Im Dortmunder Stadtteil Syburg warf er 1995 eine Handgranate in ihr Auto. Einer starb gleich, einen Schwerverletzten schoss Franz auf der Flucht in den Kopf. Der dritte überlebte, obwohl Franz und ein Komplize ihn aus dem fahrenden Auto mit einer Pumpgun beschossen.

Norman Franz konnte zweimal aus dem Gefängnis entkommen, zuletzt 1999 in Lissabon. Damit gehören seine Verbrechen zu den 319 offenen Haftbefehlen wegen Mordes mit NRW-Bezug. Sein Fall erklärt auch, warum es so viele sind, obwohl es im ganzen vergangenen Jahr nur 154 neue Morde in NRW gab: Mord verjährt nicht. Und die offenen Fälle haben sich nun angesammelt auf das Zweifache der Jahreslast.

Eine weitere Erklärung für den Anstieg hat GdP-Landeschef Mertens: „Es gibt zu wenige Ressourcen für die Fahndung. Die Fußball-EM hat dieses Jahr extrem viel Personal gebunden, aber im letzten Jahr gab es Lützerath. Die Arbeitsverdichtung hat generell zugenommen, auch durch viele bürokratische Aufgaben. Unsere Vorgangsbearbeitung ist zum Beispiel zu umständlich. Wenn ein Kriminalpolizist nur noch vorm Computer sitzen muss, wird er nicht mehr fahnden können.“

Das Innenministerium weist darauf hin, dass es in vielen Fällen eine „eine probate Sachbehandlung darstellen kann“, wenn man einen Haftbefehl nicht weiter verfolgt. Nämlich, wenn die Haft durch eine Geldzahlung abgewendet werden soll oder wenn sich die gesuchte Person im Ausland befindet. Das muss nicht immer eine Flucht bedeuten. Die Person kann auch abgeschoben worden sein, oder sie wurde wegen einer anderen Straftat ins Ausland ausgeliefert.

Gäbe es überhaupt ausreichend Plätze?

Klar ist auch, dass es gar nicht möglich wäre, alle mit 27.600 Haftbefehlen Gesuchten zugleich festzunehmen. Von den etwa 17.300 belegbaren Haftplätzen in NRW sind nur 3.300 frei. Das Justizministerium erklärt, dies habe aber keinen Einfluss auf die Strafverfolgung. „Diese Zahl ist für die üblichen Zugangszahlen auskömmlich.“