Vor 130 Jahren hat Papst Leo XIII. die erste Sozialenzyklika veröffentlicht, in deren Mittelpunkt Lösungswege für die sozialen Missstände in der industriellen Arbeitswelt standen. Zwar war diese Veröffentlichung nicht die erste Auseinandersetzung der Kirche mit der sozialen Frage, aber durch die Enzyklika erhielt die katholische Arbeiterbewegung starken Auftrieb, vielerorts wurden christliche Gewerkschaften gegründet. Darüber hinaus ermutigte das Schreiben politisch engagierte Katholiken, sich für den Aufbau eines Sozialstaates einzusetzen.

Trotz aller Erfolge hatte es die Sozialverkündigung von Anfang an nicht leicht. Stets gab es inner- und außerkirchliche Vorbehalte gegen das gesellschaftspolitische Engagement der Kirche. Gegen solche Einwände hat der belgische Kardinal Joseph Cardijn, Begründer der Christlichen Arbeiterjugend, mit deutlichen Worten die soziale Verantwortung der Christen unterstrichen: „Meiner Ansicht nach kann es nicht ausreichend sein, dass die Kirchen sich nur um die einzelnen Fische kümmern, wenn das Fischwasser selbst krank geworden ist.“ Damit kommt zum Ausdruck, dass es angesichts sozialer Schieflagen nicht ausreicht, Barmherzigkeit zu üben, sondern notwendig sind strukturelle Verbesserungen der Lebensbedingungen, mit dem Ziel, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen.

Im Gegensatz zum Sozialismus hatte die kath. Soziallehre nie den Anspruch, einen neuen Menschen schaffen zu wollen. Der Blick auf den konkreten Menschen, mit all seinen Möglichkeiten, aber auch mit seinen Fehlern, hielt die Kirche davon ab, sich „utopischen Höhenflügen“ hinzugeben. Stattdessen gehört die kritische Auseinandersetzung mit allen ideologischen Anschauungen zum Kennzeichen der Sozialverkündigung. „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee“, so lautet diesbezüglich das Leitmotiv. Auch Papst Franziskus fühlt sich diesem Gedanken verbunden, bezieht er sich doch in vielen seiner Ansprachen und Veröffentlichungen auf diesen Grundsatz.

Als Anfang der 1990er-Jahre die kommunistischen Systeme in Osteuropa in sich zusammenfielen, wurde hoffnungsvoll das Ende des ideologischen Zeitalters verkündet. Diese Erwartung hat sich leider nicht bewahrheitet. Zwar gibt es aktuell keine Großideologien mehr, es lässt sich aber beobachten, dass eine Vielzahl ideologischer Versatzstücke sich anschickt, Einfluss auf die öffentlichen Debatten zu nehmen. Auch heute wird versucht, den Menschen vorzuschreiben, wie die Welt zu sein hat. Da Verfechter ideologischer Denkweisen oftmals zu einem Schwarz-weiß-Denken tendieren, kann es nicht wirklich überraschen, wenn gegenwärtig in den sozialen Medien so viel Hass und Hetze verbreitet wird.

Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die kath. Soziallehre nichts von ihrer Relevanz verloren hat. Denn nur der klare Blick auf die konkrete Wirklichkeit, so wie sie ist, und nicht wie sie sein soll, eröffnet Lösungsperspektiven für die gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

Gerhard Steger ist Dekanatsreferent im Dekanat Hagen-Witten