Hagen. Die Jahrhundertflut hat die Familie Halverscheid aus Hagen mit voller Wucht getroffen. So sieht es auf ihrem Bauernhof heute aus.
Es ist kein Rauschen. Es ist höchstens ein Plätschern. Und erst, wenn man sich der neuen Holzbrücke nähert und die Ohren spitzt, ist es überhaupt zu hören. Die Volme plätschert da, wo sie hingehört. In ihrem Bett, in einer großen Schleife um den Hof im Süden von Hagen herum, unter der Brücke hindurch. So, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Die Sonne scheint.
Nichts war selbstverständlich in der Welt der Familie Halverscheid am 14. Juli 2021. Da nämlich war nicht nur ein Rauschen zu hören. Es war ein Brausen, ein wuchtiges Tosen. Die Volme, dieser Fluss, der dem Tal in dem der Bauernhof, der erstmals irgendwann im 13. Jahrhundert erwähnt wird und der immer in Besitz der Familie war, liegt, seinen Namen gibt, hatte sein Bett verlassen. Er war über die Ufer getreten.
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Volmetal glich einer Talsperre
Erst ein bisschen, dann noch ein bisschen mehr. Und das Wasser aus dem Fluss hatte sich schließlich mit dem vermengt, was aus den Wolken hinabstürzte und das sich die Hänge links und rechts des Tals hinab ergoss. „Ich bin morgens um 7 Uhr noch selbst mit der Freiwilligen Feuerwehr ausgerückt, gegen 14 Uhr war dann klar, dass ich mich um den eigenen Hof kümmern muss“, so Dirk Halverscheid.
Weil irgendwann überall nur noch Wasser war, war der Fluss als solcher nicht mehr zu erkennen. Ein ganzes Tal stand unter Wasser und muss von oben betrachtet den Eindruck einer Talsperre hinterlassen haben. Den einer Talsperre, die keine Mauer hat – und aus der die Massen ungebremst hinabströmen.
Rinder stehen bis zum Bauch im Wasser
„Die Rinder haben bis zum Bauch im Wasser gestanden. Ich habe nur gesagt: Ich kann euch nicht mehr helfen. Da müsst ihr jetzt durch“, sagt Dirk Halverscheid, „und sie haben mich angeguckt, als hätten sie mich verstanden und sind ganz ruhig geblieben.“
Auch die Schweine haben’s überlebt. Nur für 40 Hühner gab es keine Rettung mehr. „Lina hat oben im Fenster gestanden und verzweifelt heruntergebrüllt: meine Kaninchen, meine Kaninchen“, sagt Sarah Halverscheid. „Beide haben wir noch retten können.“ Am Ende stand das Wasser fast 80 Zentimeter hoch auf dem Grundstück, im alten Bauernhaus, das etwas tiefer liegt, gar 1,25 Meter hoch.
Volme umfließt den Bauernhof in Dahl
Es sind dramatische Szenen, die sich in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli auf dem Hof abspielen, den die Familie Halverscheid gerne als ihre „Halbinsel“ bezeichnet. Halbinsel, weil die Volme sich wie eine Schleife um den Hof und die angrenzenden Felder legt. „Anfangs haben wir mit Handtüchern den Boden getrocknet, einfach unsere Sachen auf Tische gestellt“, sagt Sarah Halverscheid, „irgendwann in der Nacht war klar, dass das alles nicht reicht.“ Es war die Nacht, nach der nichts mehr sein sollte wie bishe. Und die die Halverscheids auch ein Jahr danach noch täglich beschäftigt.
„Es sind vor allem viele Kleinigkeiten, die noch erledigt werden müssen“, sagt Dirk Halverscheid. „Die neuen Türen, die wir einbauen mussten, sind schmaler als die alten. Da müssen wir noch beiputzen. Die Diele muss noch auf Vordermann gebracht werden. Dann können wir dort wieder unser Werkzeug unterbringen. Und erst dann können wir das Kaminzimmer im Haus meines Vaters angehen. Der Zaun an der Weide ist noch ein Provisorium. Ich denke, bis wir komplett durch sind, wird noch einmal ein Jahr vergehen.“
Viele Helfer unterstützen Familie Halverscheid
Das Projekt lebt von der Eigenleistung und den vielen Helfern. „Das war Wahnsinn, wie schnell Leute hier waren und angepackt haben. Das wir jede Unterstützung brauchen, hat sich per Facebook wie ein Lauffeuer verbreitet“, sagt Sarah Halverscheid. „Wenn wir hier von Anfang an nicht so viel selbst gemacht hätten, hätten wir Weihnachten nicht schon wieder alle unter einem Dach feiern können. Kaum auszudenken, wir hätten bei jeder Kleinigkeit warten müssen, bis ein Handwerker Kapazitäten hat.“
Dazu kommt finanzielle Unterstützung. Privatmenschen gaben Geld. Die Soforthilfe des Landes floss. Dazu Spendengelder, die die Caritas gesammelt hatte. „Das hat uns unheimlich geholfen“, so Dirk Halverscheid. Wir gucken noch heute, dass wir Sachgegenstände ersetzt bekommen. Hier ging ja nichts mehr – keine Bohrmaschine, keine Flex. Alles Werkzeuge, die wir dringend gebraucht haben, um den Hof wiederaufzubauen.“
Familie an der Belastungsgrenze
Die Arbeit aber ist in Summe eine Energieleistung, die die Familie immer wieder an die Belastungsgrenze bringt. „Der landwirtschaftliche Betrieb musste ja weitergehen“, sagt Dirk Halverscheid, „hinzu kommt, dass meine Frau und ich beide berufstätig sind. Dazu der Familienalltag mit vier Kindern. In so einer Lage darf man sich nicht verrückt machen. Unser Freund Florian hat mal gesagt, wir sollten immer auf das schauen, was schon fertig ist und nicht auf das, was noch gemacht werden muss. Damit sind wir gut gefahren.“
Fertig war zum Beispiel schnell die Holzbrücke über die Volme, die für den Hof eine so wichtige Verbindung ist. „Am 21. August hat meine Frau Geburtstag“, sagt Dirk Halverscheid, „an diesem Tag stand dann der Betonpfeiler wieder an Ort und Stelle – mitten im Fluss.“ Was für ein Geschenk...
Nicht verrückt machen lassen
Wie jetzt das Schutzkonzept aussieht, welche Vorkehrungen sie getroffen haben? „Für solche Überlegungen haben wir noch gar keine Zeit“, sagt Dirk Halverscheid, „aber ich glaube nicht, dass man sich vor solch einem Hochwasser schützen kann. Wir können uns jetzt nicht vor jedem Regen verrückt machen. Eigentlich bräuchte es Rückhaltebecken in jedem Seitental. Aber das ist wohl eine Illusion.“