Schreibershof/Kiew. Olga Rogalsky lebt in Schreibershof, hat russische und ukrainische Wurzeln. Jetzt hat sie eine aus Kiew geflüchtete Frau bei sich aufgenommen.
Inna Spiridonowa lässt auf die Frage, wie sie zu dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij stehe, keinen Zweifel aufkommen: „Ich glaube an ihn. Alle Ukrainer glauben an ihn“, sagt sie, ohne überlegen zu müssen. Die 49-jährige Frau und Mutter zweier Söhne sitzt am Küchentisch des Wohnhauses von Olga Rogalsky (33) im 500-Seelen-Dorf Schreibershof. Olga Rogalsky ist im russischen Stepnoe in der Wolgaregion geboren und als Russlanddeutsche schon als junges Mädchen nach Deutschland gekommen. Hier die Ukrainerin, da die „Russin“. Und dennoch kein Hauch von irgendwelchen Feindseligkeiten, im Gegenteil: „Sie ist unsere gute Seele, verwöhnt und bekocht uns jeden Tag“, lacht Olga Rogalsky, während sich ihr kleiner Sohn Lion auf ihren Schoß setzt und überlegt, wer der Mann mit der Fotokamera am Ende des Tisches sein könnte.
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„Für mich war von Anfang an klar, dass wir hier helfen müssen“, sagt sie, die neben russischen und deutschen Wurzeln auch Verwandte in der Ukraine hat. Ihre Cousine Tatjana aus Kiew war kurz nach Kriegsausbruch in die westliche Region Winnyzja geflohen, genauer gesagt ins Dorf des gemeinsamen Großvaters nach Ladyzhin. Olga hatte ihrer Cousine mit auf den Weg gegeben: „Sag’ Bescheid, wenn Du jemand triffst, der nach Deutschland fliehen möchte, er kann zu uns kommen.“ Und wie der Zufall es wollte, traf Tatjana Inna Spiridonowa und erzählte ihr von der Cousine Olga in Schreibershof.
Inna ist anzusehen, wie froh sie ist, in Deutschland nicht nach Obdach suchen zu müssen. Nach einer immerhin sechs Tage langen Flucht: „Nachdem die Bombenangriffe auf Kiew begonnen hatten und sich die Situation von Tag zu Tag verschärfte, sind wir am 3. März losgefahren“, erzählt sie in ihrer Landessprache, die Olga Rogalsky ins Deutsche übersetzt.
Sechs-Tage-Odyssee
Dann begann eine Odyssee, die vermutlich viele Geflüchtete aus der Ukraine so oder so ähnlich hinter sich bringen mussten: Mit der ukrainischen Eisenbahn ging es in ihren bereits erwähnten Geburtsort Ladyzhin in die West-Ukraine, weiter mit Bussen an die moldawische Grenze, von dort nach Chișinău (Republik Moldau), dann nach Rumänien und weiter nach Ungarn. Und schließlich über Österreich nach Deutschland und schließlich nach Schreibershof.
Während Olga Rogalskys Cousine Tatjana mittlerweile auch Obdach bei Onkel und Tante in Werl gefunden hat, hofft Inna, dass ihr jüngerer Sohn Kyrill (19), der erst noch in Kiew ausharren wollte, dann aber doch zur ungarischen Grenze aufbrach, auch den Weg nach Schreibershof findet: „Wir stehen täglich im Kontakt“, sagt Inna Spiridonowa und faltet die Hände, in der Hoffnung, dass nichts mehr dazwischen kommt. Weitaus mehr Angst hat sie um ihren Ältesten Roman (26) und ihren Ehemann Georgi (53), die die Ukraine nicht verlassen dürfen: „In der ersten Welle der Mobilmachung waren sie noch nicht dabei, wenn es eine zweite gibt, wird Roman wohl Soldat werden. Er ist überzeugter Patriot und wird kämpfen“, sagt Inna mit dem Gesichtsausdruck einer Mutter, der keiner weiteren Interpretation bedarf. Ehemann Georgi sei gesundheitlich angeschlagen, werde kaum eingezogen, gehöre aber zum staatlichen Sicherheitspersonal, das Plünderungen leerstehender Häuser verhindern solle. „Beide sind in immerwährender Lebensgefahr, der Sohn einer Freundin ist schon gefallen“, sagt die 49-Jährige. Eine bittere Tragik des Krieges, die vermutlich unzählige Ukrainer dieser Tage so empfinden müssen.
Verworrene Situation
Ich lerne an diesem Nachmittag in einer guten Stunde viel über die mir weitgehend unbekannte Region Osteuropas. Zum Beispiel, dass die Situation im Vielvölkerstaat verworren ist, alles andere als homogen. „Mein Mann stammt aus Usbekistan, hat zwar die ukrainische Staatsbürgerschaft, gilt aber bei den Ureinwohnern nicht als richtiger Ukrainer“, erklärt die Geflüchtete. Und in den Ostregionen des Donbas lebten auch nicht etwa überwiegend Russen, wie manche das in Westeuropa glaubten, „nur etwa 30 Prozent sind russischer Abstammung.“ Und vereinzelt gebe es auch Ukrainer, die eher auf russischer Seite stünden, verwirrt die 49-jährige mein Weltbild von der Situation eines Landes mitten im Krieg: ein nationaler, aber auch nationalistischer Wirrwarr. Was mir Olga Rogalsky und Inna Spiridonowa damit eigentlich sagen wollen, erklären sie mir anschließend: „Das macht alles unendlich schwierig.“ Es sei sicher, dass die Situation auch nach dem Ende des Krieges kurzfristig nicht zu befrieden sei, sondern in eine Art dauerhafte Konfliktregion münde: „Eine ähnliche Situation wie in Syrien ist denkbar, ein unendlich langer militärischer Konflikt“, befürchtet Inna Spiridonowa, während sie die Schultern fragend hochzieht, nach dem Motto: Eigentlich weiß niemand eine Lösung. Bis Kiew wieder aufgebaut sei, ist sie sich sicher, das werde viele Jahre dauern.
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Einig sind sich die beiden Frauen zu 100 Prozent über eines: „Das Beste wäre für alle, wenn sich Wladimir Putin in Luft auflösen würde.“ Die Frage nach ihrem größten Wunsch in diesem Moment stelle ich mehr aus Höflichkeit, weil ich die Antwort kenne: „Dass dieser Krieg aufhört, sofort aufhört.“
Erschreckende Bilder
Kurz darauf stellt sie ihr Handy auf den Tisch und zeigt mir ein Video. Vielmehr ein Zusammenschnitt von mehreren Videos, die von irgendeinem Techniker in irgendeinem Keller zusammengeschnitten und über WhatsApp verbreitet worden und auch bei ihr gelandet sei. Schreckliche Bilder ziehen vorüber, und Inna – irgendwie duzen wir uns mittlerweile – kommentiert: „Was im deutschen Fernsehen gezeigt wird, ist nichts im Vergleich zur Realität in unseren Städten.“ Vor allem Szenen aus Mariupol und Kiew mit Kellern voller Leichen, darunter ein in ein Laken gehülltes Baby. Ein junger Mann sagt dazu: „Man stumpft in einem Krieg zwar ab, aber so etwas lässt niemanden kalt“. Man hört, seine Stimme ist gebrochen, er kämpft mit den Tränen. Eine weitere Szene zeigt, wie ein Mann vom Luftdruck einer Explosion von der Straße hinweggefegt wird. Blitze und Feuerbälle, unzählige hohle Häuserfassaden, Blut überströmte Schwerverletzte – ein zur Realität gewordener Horrorfilm.
Ein Fall für Prof. Udolph
Als wir uns wieder gefangen haben, bittet Inna mich zum Schluss unseres Gespräches noch um einen Gefallen. Ob ich niemand wisse, der sich mit Namens- und Ahnenforschung beschäftige. Der Grund: Mit ihrem Mädchennamen heißt sie Inna Kurschpel und würde gerne wissen, wo dieser Name herkomme?
Klarer Fall für Deutschlands prominentesten Namensforscher Prof. Dr. Jürgen Udolph. Wir werden vermitteln.