Hagen. Die Panzer rollen in 2500 Kilometer Entfernung. Doch Hagen ist gleich aus mehreren Gründen Leidtragender des Ukraine-Kriegs. Menschen und Firmen.
Es ist Krieg. Die längste je ununterbrochene Friedenszeit in Europa ist zu Ende. Und Hagen ist – auch wenn es hier die physische Bedrohung durch Panzer, Raketen oder Bodentruppen nicht gibt – doch mittendrin. Der Russland-Ukraine-Konflikt packt die Stadt wirtschaftlich und menschlich, finanziell und emotional.
238 Ukrainer leben in Hagen
In Hagen leben 238 Menschen mit einem ukrainischen Pass. Daneben 348 russische Staatsbürger. Aber: 43 Prozent der Hagener haben einen Migrationshintergrund. Die russische Community in der Stadt gilt vor diesem Hintergrund als größer. Es ist aktuell schwierig, mit Russen über das Thema ins Gespräch zu kommen. Zumindest ist das das Ergebnis mehrerer Anfragen. Niemand möchte etwas sagen.
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Eine, die spricht und Panik verspürt, ist Ludmila Polakova (59), Betreiberin des Waldhotels Lemberg am Reckhammer zwischen Priorei und Breckerfeld. Sie stammt auch aus dem westukrainischen Lemberg (ukrainisch Lwiw), wo rund 720.000 Menschen leben. Vor 30 Jahren kam sie nach Hagen. Bis zuletzt stieg sie einmal monatlich am Dortmunder Flughafen in den Flieger und nahm den Direktflug nach Lemberg, um die Familie zu besuchen. Jetzt glühen die Drähte vor allem in die andere Richtung. Familie, Freunde – alle wollen raus aus der Ukraine.
Familie Zimmer angeboten
„Ich habe ihnen die Zimmer meines Hotels angeboten. Alle haben Panik und Angst. Ich auch. Um sie alle, aber auch um mein Lemberg.“ Die russischen Invasoren, so sagen es ihr Freunde, seien gestern Morgen nur noch 100 Kilometer entfernt gewesen. Putin vergleicht sie mit Hitler. „Er ist kein Mensch.“ Den Satz lässt sie dann so stehen.
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Hagens Unternehmen trifft der Konflikt mit aller Härte. 90 Unternehmen aus ihrem Kammerbezirk, heißt es von der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer (SIHK), exportieren nach Russland. Die westlichen Sanktionen gegen Russland werden das nun unterbinden. „Dazu gehört auch“, sagt SIHK-Außenhandelsexperte Frank Herrmann, „dass Vorprodukte nicht mehr von dort bezogen werden.“ Also halbfertige Produkte, die wiederum für die eigene Herstellung von Produkten unerlässlich sind. Aluminium, Industriegase, Holz, Pflanzenfette.
Lieferketten jetzt prüfen
„Die Unternehmen müssen jetzt ihre Lieferketten prüfen“, sagt Herrmann. Das ist – bei allem Verständnis dafür, Russland zu schwächen – auch brutal. Viele Mittelständler haben die Pandemie noch nicht aus der Jacke geschüttelt. Oder die Hochwasser-Katastrophe. Jetzt der Krieg.
Die Beziehungen Hagens zur russischen Partnerstadt Smolensk ruhen derweil. Coronabedingt hat es auf Besuchsebene schon seit geraumer Zeit keine Anfragen mehr gegeben. Nun auch nicht. Der Freundeskreis Hagen-Smolensk, der den akademischen und kulturellen Austausch zwischen den Partnerstädten Hagen und Smolensk fördert, berichtet von eingeschränkten Kontakten – ohnehin durch die Pandemie. Vorsitzender Hans-Werner Engel: „Aus dem politischen Geschehen halten wir uns komplett raus. Uns interessieren die Menschen, nicht die Politik. Wir sind ja keine Nicht-Regierungsorganisation.“
Die andere Sicht einnehmen
Der Hagener Hajo Schmidt ist Professor der Philosophie im Ruhestand und jahrzehntelanger Friedens- und Konfliktforscher. An der Fernuni Hagen leitete er unter anderem das Institut für Frieden und Demokratie. Putins Vorgehen hält er für eine Völkerrechtsverletzung.
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Die Sicht des Forschers
Er sagt aber auch: „Putin handelt aktuell aus Erfahrungen heraus, die er jahrzehntelang mit dem Westen gemacht hat. Mir hat das Einnehmen der russischen Perspektive zuletzt gefehlt. Durch das völlig unglückliche Verhalten bei der NATO-Osterweiterung ist ein Großreich heruntergestuft worden und hat seine Gegner direkt an die Grenzen gesetzt bekommen. Es gibt keine Großmacht, die sich so etwas auf Dauer gefallen lässt. In den Verlautbarungen des Westens ist zuletzt nie Thema gewesen, was Russland interessieren könnte. Und beide Seiten hätten wirklich Verhandlungsmasse gehabt. Ich denke da nur an eine Auffrischung nuklearer Verträge. Der Nato-Russland-Rat wurde seit Jahren nicht aktiviert. Und das Normandie-Format wurde auch erst jetzt, da es bedrohlich wird, wieder genutzt. Im Moment bleibt dem Westen nichts anderes, als mit Sanktionen zu arbeiten. Die diplomatischen Kanäle müssen trotzdem, wo es nur geht, geöffnet bleiben.“