Hagen-Mitte. Samstagabend in Hagen, es ist viel los in der Düppenbeckerstraße, der einzigen Bordellstraße der Stadt: Über das komische Gefühl, dabei zu sein
Meine Frau und die Kinder sind im Bett. Ich bin hier. Düppenbeckerstraße, es ist ungefähr 22.30 Uhr und, so weit ich das beurteilen kann, ist ziemlich was los. Von den Fassaden der erdgeschossigen Häuser flackert rotes oder violettes Licht und vor mir schlendern Männer aller Moderichtungen: Anzüge, Jogger, Latzhosen. Ich bin etwas unsicher. Ich kann mich schlecht in die Mitte der Straße stellen und beobachten, so wie wir es ja machen wollen in dieser Sommerserie. Irgendjemand wird sich wohl fragen, was das soll. Die Damen hinter den Scheiben – oder die umhergehenden Männer auf ihrer Suche nach jenen Damen.
In Hagen ist da ja so: Die Stadt mag Großstadt sein, ist aber letztlich so klein, dass man immer und überall, wo man hingeht, ein bekanntes Gesicht trifft. Man braucht dazu selbst gar nicht bekannt zu sein, es ist eben einfach so. An diesem Abend – es ist Anfang des Monats – treffe ich hier niemanden, den ich kenne. Weder vom Sehen noch persönlich. Und überhaupt: Wie wäre das dann auch: „Hallo Herr Fiebig“ oder „hallo Mike, wie geht es bei der WP...“ oder so? Wohl kaum. Ich schätze, man würde den Kopf gen Boden senken und den stillschweigenden Vertrag ohne Handschlag treffen, sich nicht begegnet zu sein.
Ein junger Mann fällt auf
Ein Herr, jünger als ich, fällt auf. Er kommt sehr zielstrebig die Düppenbeckerstraße hoch. Schnelles Umsehen, schnelle Ansprache einer jungen schlanken Dame mit hochgesteckten dunklen Haaren, die in einem schwarzen Tanga und einem BH aus Satin zunächst nur die Fensterscheibe öffnet. Recht kurzes Gespräch, dann: Eintritt. Weg ist er. Weg ist sie. Worüber haben sie gesprochen? Ich meine, wer hier herkommt, der hat doch wahrscheinlich klare Vorstellungen, konkrete Vorlieben, vielleicht auch eine Vorstellung von einer Dame.
Während ich versuche mit dem Schlender-Strom einfach mitzugehen, geht neben mir ein Fenster auf. Weil irgendwo Musik läuft, verstehe ich die ersten Sätze nicht. Nur sinngemäß, ob ich Lust hätte. Ich sage nichts, winke aber mit meiner Hand ab. Die Dame schließt wieder das Fenster.
Hätte ich noch etwas Freundliches sagen sollen? Ich meine, die Damen hinter diesen Fensterfronten in der einzigen legalen und offiziellen Bordellstraße der Stadt haben alle ihre eigenen Lebensgeschichten und Biographien. Sie sind Menschen, so wie ich es bin. Mit allem was dazu gehört. Vor allem mit einer Würde. Ich gehe nicht zurück und nehme den Gesprächsfaden noch einmal auf.
So läuft das hier eben nicht.
Top-Bordell-Adresse deutschlandweit
Am Anfang der Straße führt eine Treppe wenige Stufen hinauf zu einem steilen Fußweg, der zur Kratzkopfstraße führt. Reges Treiben hier. Mehrere Männer, stark gestikulierend und durcheinander redend. Manche sitzen auf den Treppenstufen, andere stehen. Was tun die? Beobachten, so wie ich? Aktiv im Sinne der unten umhergehenden Männer werden sie nicht. Ich frage sie nicht. Sie könnten mich umgekehrt genau so gut fragen, was ich denn hier will. Dass ich Reporter bin, würde dabei vielleicht wie eine Ausrede klingen.
In den 60er- und 70er Jahren, als es noch keine Saunaclubs gab und keine Flatrate-Läden, in denen Männer für einen Grundbetrag so viel Sex haben können wie sie wollen, sei Hagen eine Rotlicht-Top-Adresse gewesen. Sie erzählte, dass die Damen in den knallbunten Häusern eine Tagesmiete an die Besitzer oder Betreiber zahlen würden. Ihre Gewinne würden sie selbst behalten. Die Tagesmiete wurde nachts um 0 Uhr von ihr kassiert. Wer am darauf folgenden Tag weiterziehen möchte, tue es. Auf die Frage übrigens, mit wie vielen Männern sie Sex gehabt habe, sagte sie mit einem Augenzwinkern: „Mit jedem.“
Die Kennzeichen an der Straßenauffahrt legen schon nahe, dass man sich aus der näher gelegenen Region hierhin aufmacht. Aber nicht aus ganz Deutschland. Ich selbst habe noch den letzten Parkplatz in erster Reihe bekommen. Allzu viele sind es ja auch nicht.
In dem größeren Mehrparteien-Wohnhaus, das sich quasi neben der Straße befindet, aber an der Volmestraße steht, läuft das ganz normale Leben. Menschen sitzen im Hinterhof, andere rauchen am offenen Fenster, die Wäsche hängt zum Trocknen draußen.
Ich vermute, dass ich heute der Einzige war, der daheim Bescheid gesagt hat, wo er hinfährt. In der „Düppenbecker“ läuft der Liebesbetrieb weiter. Eine Dame spricht mich noch mal an. Sie ist hübsch, denke ich, lächle und fahre heim.