Kreis Olpe/Sondern. Die erste Corona-Welle vor einem Jahr hat den Kreis Olpe hart getroffen. Anzeichen verdichten sich, dass Ski-Urlauber das Virus im Gepäck hatten.
Wenn Timo Schmidt-Schürmann (67) aus Sondern aus dem Nähkästchen plaudert und auf den März 2020 zu sprechen kommt, fühlt man sich in einen Thriller versetzt, der den Titel tragen könnte: „Der Tod kam aus Ischgl“. Dabei handelt es sich allerdings nicht um einen Bestseller-Roman, sondern um tatsächliche Geschehnisse, mit schwerwiegenden Folgen auch für den fast 700 Kilometer entfernten Kreis Olpe.
Schmidt-Schürmann, von Kindesbeinen an begeisterter Skifahrer und seit Jahrzehnten Organisator von Skifreizeiten des Olper Wintersportvereins „Schneekanonen“ erzählt: „Am 11. März fand in See eine Krisensitzung des Verkehrsverbandsvorstands Paznauntal statt. Mit dabei Freunde von mir, unter anderem der Seniorchef eines 180-Betten-Hotels und dessen Sohn. Auf der Tagesordnung bestimmte nur ein Thema das Geschehen: Corona und die zu erwartenden Folgen.“
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Für die Tourismusbetriebe im Paznauntal sollte in der Konsequenz um mehrere hundert Millionen Euro Umsatz gehen. Denn neben See, dem Lawinen-Unglücksort Galtür und Kappl liegt das weltbekannte Ski- und vor allem Apres-Ski-Paradies Ischgl im Paznauntal.
Was damals noch niemand ahnte. Schon bald musste der 66-jährige Seniorchef des Hotels in See um sein Leben kämpfen: „Einen Tag nach der Sitzung war klar, dass er sich infiziert hatte und sich ein ganz schwerer Krankheitsverlauf andeutete“, erinnert sich Schmidt-Schürmann, „er lag dann zehn Wochen im künstlichen Koma, konnte sich monatelang nur mit einem Rollator fortbewegen. Auch heute benötigt er noch einen Stock als Gehhilfe.“ Auch der Sohn infizierte sich, die Krankheit verlief aber nicht derart tragisch.
Ballermann 6 der Alpen
Ein Schicksal weit weg? Vermutlich nicht. Denn Schmidt-Schürmann macht deutlich, wie sich das tragische Geschehen aus dem wunderschönen Paznauntal in den Tiroler Alpen nicht nur in viele Teile Europas ausdehnte und Ischgl zum Inbegriff des Schreckenswortes „Hotspot“ machte, sondern auch auf den weit entfernten Kreis Olpe: „Allein unser Club, also die Schneekanonen, die ich 1991 mitgegründet habe, fahren seit Ende der 90-er regelmäßig ins Paznauntal, fast jedes Jahr bis zu viermal und mit mehreren Gruppen.“
Und auch andere Skisportfreunde aus dem Kreis seien regelmäßige Gäste im Tiroler Tal und der Apres-Ski-Hochburg Ischgl, das nicht umsonst als der Ballermann 6 der Alpen bezeichnet wird.
Schmidt-Schürmanns Ehefrau Gerlinde, die oft mit auf Tour war, erläutert die Verhältnisse: „Da stehen die Leute in großen Lokalen dicht an dicht, und die Zapfer hinterm Tresen wollen so schnell wie möglich so viel Bier verkaufen, wie es geht. An Hygiene und sorgfältiges Gläserspülen denkt da niemand.“
Schon gar nicht an eine ansteckende Krankheit. Die großen Apres-Ski-Tempel tragen so illustre Namen wie „Kuhstall“, „Hexenkessel“ und „Trofaner Alm“. „Da gehen bestimmt 200 bis 300 Menschen rein“, sagt Gerlinde Schürmann, und ihr Mann Timo fügt hinzu: „Wir sprechen in diesem Skigebiet von täglich an die 25.000 Menschen, die sich auf Skiern bewegen.“
Wechselnde Theorien
Rückblende: Den ersten Corona-Infizierten vermeldeten die Behörden in Ischgl zunächst am 7. März: Dabei handelte es sich um einen deutschen Barkeeper im Apres-Ski-Lokal Kitzloch. In den Wochen und Monaten danach wechselten sich unterschiedliche Theorien ab. Eine Reisegruppe aus Island soll Beweis für eine frühere Verbreitung sein, in einem anderen Fall Erasmus-Studenten aus Norwegen.
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Vermutlich grassierte das Virus bereits deutlich früher im Skigebiet als Anfang März, so die Vermutungen. Mittlerweile haben unzählige Urlauber Schadenersatzklage einreichen lassen. Der wesentlichste Vorwurf: Die Verantwortlichen hätten zu spät informiert und reagiert, aus den Après-Ski-Lokalen Ischgls sei das Virus in fast 50 Länder verbreitet worden.
Als die Infektionszahlen ausgerechnet im Kreis Olpe im Frühjahr durch die Decke gingen und insbesondere die hohe Zahl von Corona-Toten die Sauerländer Region erschreckte, standen die Verantwortlichen vor einem Rätsel. Hier und da wurde der Verdacht geäußert, der sich mit Schmidt-Schürmanns Erfahrungen deckt: „Es gibt eine langjährige traditionelle Verbindung zwischen den Skisport-Begeisterten im Kreis Olpe und dem Paznauntal.“
Auf die Frage, wie viele Ski-Touristen aus dem Kreis Olpe denn Jahr um Jahr ins Paznauntal aufbrechen würden, kann Schmidt-Schürmann zwar nur grob schätzen, aber: „Das werden sicherlich mehr als 1000 sein.“ Da er sich auch in den Nachbarkreisen in Sachen Skitourismus auskennt, fügt er gleich hinzu: „Das ist weder im Siegerland so, noch im Kreis Altenkirchen.“
Heinsberg erster Hotspot
Wer es schon vergessen hat: In Nordrhein Westfalen wurde als erstes der Kreis Heinsberg bei Aachen als Corona-Hotspot ausgemacht und stand in ganz NRW als warnendes Beispiel an erster Stelle. Eine Karnevalssitzung am 15. Februar stand im Verdacht, Hauptverbreiter des Virus gewesen zu sein. Es folgte der Rosenmontag am 24. Februar. Nach Erkenntnissen des Bonner Virologen Hendrik Streeck könnte das Virus schon vorher den Weg über Belgien und die Niederlande über die Grenze gefunden haben.
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Kurz nach den Vorfällen in Heinsberg machte der Kreis Olpe der Region am Niederrhein zweifelhafte Konkurrenz. Die Infizierten-Kurve zeigte im Frühjahr 2020 im Kreis Olpe auffällig steil nach oben. Auch die Zahl der Corona-Todesfälle schnellte im April in die Höhe, als Ischgl und Karneval schon mehrere Wochen zurücklag.
Bis Ende April vermeldete der Kreis 43 Corona-Tote, Ende Mai 51, dann flachte die Kurve ab, bis Ende Oktober die zweite Welle begann. Die Nachbarkreise kamen deutlich besser durch die erste Welle (Infobox).
Glück gehabt
Timo Schmidt-Schürmann selbst hat Anfang 2020 vermutlich großes Glück gehabt. Denn wenige Wochen, bevor das Paznauntal zur Corona-Area mutierte, hatte er mit einer „Best-Ager“-Gruppe dort eingecheckt: „Wir waren Ende Januar mit 15 Mann dort, alle in einem Alter, mit dem man zur Risikogruppe gehört. Der Älteste 80.“
Zu dem Zeitpunkt sei Corona zwar auch in Tirol schon Gesprächsthema gewesen, aber, so der Tour-Organisator, „das war noch 8500 Kilometer weit weg, in China eben.“ Von den Männern im „besten Alter“ kehrten alle Teilnehmer gesund ins Sauerland zurück. Wenige Wochen später wären die älteren Herren möglicherweise ins offene Messer gelaufen.
>>> Skisaison 2021: Alle Touren abgesagt
Ski-Realität im Winter/Frühjahr 2021: „Sämtliche Touren der Olper Schneekanonen sind abgesagt worden“, sagt Timo Schmidt-Schürmann.
„Die Saisoneröffnung wäre im November gewesen – eine Fortbildung für Skilehrer und einige Privatleute nach Hochgurgel in Tirol mit etwa 35 Skifahrern. Zwischen Weihnachten und Neujahr hätte die Familienfreizeit mit 75 Personen nach See im Paznauntal stattgefunden, in der letzten Januarwoche wäre ich mit etwa 15 Best-Agern, Skifreunde von 55 bis 80 Jahren, auch nach See gefahren, und Ende diesen Monates bis 4./5. März stand eine Allgäu-Tour mit etwa 15 älteren Herrschaften auf dem Terminplan.“
Vor und nach Ostern würden normalerweise Fahrten mit mehr als 100 Ski-Freunden starten. Nichts davon kann realisiert werden.