Kreis Olpe. Wie steht es um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während Corona? Zwei Psychologen aus Olpe beleuchten die Situation.

Viele Kinder- und Jugendpsychologen und -therapeuten schlagen Alarm: Die Corona-Beschränkungen träfen jüngere Menschen überproportional. Telefonseelsorger hatten in einem Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Blick auf zunehmende Suizidgedanken eine dramatische Entwicklung ausgemacht, eine Gruppe von rund 200 Fachleuten im Bereich der Kinderpsychologie warnten vor den gravierenden Folgen der Kontaktarmut. Berichtet wird unter anderem von Angststörungen und Depressionen, aber auch Aggressionen oder Trennungsängste seien die Folge. Fazit der Experten: Die Situation spitze sich deutschlandweit zu.

Wir hatten Gelegenheit, mit den beiden Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Huriye Löwenberg und Dr. Michael Kühlmann zu sprechen. Und zu fragen, wie sie die Situation im Kreis Olpe bewerten.

Macht Corona Kinder krank?

Huriye Löwenberg: Ja. Ich würde sagen, dass Corona viele Kinder krank gemacht und Symptome verschlechtert hat. Kinder, die psychisch stabil waren, wurden instabil. Immer mehr Kindergarten- und Grundschulkinder entwickeln Trennungsängste, wollen das Haus nicht mehr verlassen, haben Angst um ihre Eltern, die ja sterben könnten. Wollen unbedingt im Ehebett schlafen, weil sie nachts wach werden, Alpträume und Schlafstörungen haben. Gerade die Kindergartenkinder zeigen häufiger Wutanfälle, weigern sich bei kleinsten Alltagsaufgaben (Zähne putzen, Hände waschen..), reagieren sensibel und verletzlich.

Der Körperkontakt und die persönliche Nähe fehlt pandemiebedingt immer mehr in unserem Alltag. Man muss sich bewusst machen, wie viel Nähe uns Menschen, besonders auch den Kindern bedeutet: Liebe, Trost, Mitgefühl, Sicherheit, Geborgenheit. Ohne Nähe fehlt das alles, oder es ist zumindest beschränkt.

Schulbesuch kein Alltag

Wenn wir uns die Problematik bei den Schulkindern anschauen, stellen wir fest, dass der Schulbesuch kein Alltag mehr ist. Schule ist immer wieder eine Ausnahme, erzeugt mit den ständigen Veränderungen und Anpassungserwartungen Unsicherheiten. Viele Grundschulkinder zeigen typische psychosomatische Beschwerden, wenn es um die Schule geht: Übelkeit, Kopfschmerzen, Erbrechen. Es kann zu einem Teufelskreis kommen. Der Schulbesuch löst Angst und Unsicherheit aus. Angst erzeugt psychosomatische Beschwerden. Und diese Beschwerden sind der Grund, weshalb es zum Schulabsentismus und zur depressiven Störung kommt. Wenn man mit einer Situation wie dem jetzt schon Monate anhaltenden Verzicht auf Kontakte und den vollkommen veränderten Alltagsaufgaben konfrontiert ist, kommt im Laufe der Zeit die Überforderung. Man gerät immer mehr unter Druck und sucht dagegen eine Lösung. Eine Lösung kann in diesem Falle ein selbstverletzendes Verhalten sein. Dieser dysfunktionale Umgang mit Druck und Frust kann bis zum Suizid eskalieren. Ich habe viele Patienten mit Suizidgedanken.

Zukunftsängste

Bei den Älteren spielen Zukunftsängste eine Rolle, Depressionen, Drogen- und Alkoholkonsum. Sie sind gezwungenermaßen meist zu Hause, können sich kaum noch ablenken. Der Computer wird dann zum grundlegenden Kommunikationsfaktor.

Von Depression über Burnout bis zu ADHS und Sucht

Huriye Löwenberg (Jahrgang 1971) und Dr. Michael Kühlmann (Jahrgang 1952) wohnen und arbeiten in Olpe, seit 2018 in einer Praxisgemeinschaft.Huriye Löwenberg ist approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und zählt zu ihren Behandlungs-Disziplinen unter anderem Depression, Essstörung, Stress-Burnout-Mobbing, Trauma-Gewalt-Missbrauch.Dr. Michael Kühlmann ist Diplom-Pädagoge, Doktor der Erziehungswissenschaft und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Er beschäftigt sich unter anderem mit ADHS, Entwicklungsstörungen, Suchtverhalten und Zwangsstörungen.

Ein ganz anderes Corona-typisches Phänomen möchte ich gerne noch erwähnen: Mittlerweile haben sich einige Mädchen so sehr an den Mundschutz gewöhnt, dass sie sich nicht mehr vorstellen können, ohne Mundschutz in die Öffentlichkeit zu gehen. Sie fühlen sich unter der Maske vor Blicken geschützt.

Dr. Michael Kühlmann: Kinder bekommen viele Nachrichten mit. Sie sitzen bereits im Kindergartenalter vorm Fernseher. Dann kommt es vor, dass Fünf- oder Sechsjährige Angst haben, nach draußen zu gehen, weil das böse Corona-Virus lauert. Und die Angst wird auch auf die Eltern erweitert, da sie sich ja auch infizieren und sterben könnten. Es wundert nicht, dass aus einer Umfrage unseres Berufsverbandes hervorgeht, dass die Nachfrage nach Psychotherapie für Kinder im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um etwa 60 Prozent gestiegen ist. Unsere Arbeitszeiten reichen mittlerweile täglich von 9 bis 19 Uhr, eine lange Warteliste dokumentiert ebenfalls den erheblich gestiegenen Andrang. Wir könnten bis Mitternacht arbeiten, hätten genügend Patienten. Da momentan kein Präsenzunterricht stattfindet, kommen Kinder und Jugendliche auch vormittags, so dass wir ab 9 Uhr morgens durchgehend Termine haben.

Worauf hätten Sie hingewiesen, wenn Sie mit am Tisch der großen Politik gesessen hätten?

Dr. Michael Kühlmann: Es gibt eine ganze Menge, worauf ich hingewiesen hätte. Das geht los mit der Ausstattung unserer Schulen. Es ist an keiner Schule mit Containern gearbeitet worden, um die Klassenstärken zu reduzieren, wodurch kleinere Klassen hätten unterrichtet werden können. Man hätte alles dafür tun müssen, wenn es irgendwie gegangen wäre, Schule mit Präsenzunterricht stattfinden zu lassen. Warum hat es ein Jahr gedauert, auf die Idee zu kommen, Schulen Schnelltests zur Verfügung zu stellen? Warum werden diese Tests in der Schule gemacht, und nicht zu Hause, bevor die Kinder losgehen oder in überfüllten Bussen sitzen? Wo sind statt zwei vier oder fünf Schulbusse? Da hat die Politik mangelhaft reagiert.

Schulen und Kindergärten sind ein zentraler Lebensbereich von Kindern und Jugendlichen, auch und gerade unter sozialen Gesichtspunkten. Schule ist heute nicht nur Mathematik, plus und minus. Alles, was mit Kontakten zu tun hat, ist besser, als das, was allein geschieht.

Online spielen bis 5 Uhr morgens

Ein Junge spielt Online-Games. Kinder und Jugendliche verbringen im Lockdown deutlich mehr Zeit mit digitalen Spielen.
Ein Junge spielt Online-Games. Kinder und Jugendliche verbringen im Lockdown deutlich mehr Zeit mit digitalen Spielen. © dpa | Philipp Branstädter

Ohne Schule, sagen Untersuchungen, sind die Online-Spielzeiten von 12- bis 14-Jährigen von dreieinhalb auf sieben bis acht Stunden pro Tag explodiert. Mir sitzen hier in der Praxis beispielsweise 12-jährige Jungs gegenüber, die sagen: Die Mama hat mir erlaubt, bis ein Uhr nachts online zu spielen. Und wenn Mama und Papa schlafen, dann vergesse ich schonmal die Zeit und spiele bis fünf Uhr morgens weiter. Dann wiederum wird dieser Junge morgens nicht wach, wenn er geweckt wird, und seine Zeitstruktur gerät durcheinander. Es wird nicht mehr regelmäßig gegessen in der Familie, sondern nur zwischendurch. Und manche Eltern wissen plötzlich nicht mehr, wie sie ihre Kinder wieder zurückholen, einfangen sollen, um eben wieder eine Tagesstruktur reinzubringen. Wir versuchen dahingehend zu beraten, die Kinder strikt morgens zu wecken und abends um 22 Uhr ins Bett zu schicken und eine halbe Stunde länger wach zu bleiben, um zu überprüfen, ob das Kind auch eingeschlafen ist. Aber auch gemeinsame Zeit ist wichtig, ohne Schule im Hinterkopf, ohne Kritik und Verbote.

Wird Homeoffice zu einem Konfliktpotenzial, das es vorher nicht gegeben hat?

Huriye Löwenberg: Jeder hat plötzlich viel mehr Rollen innerhalb des Familienlebens. Eltern haben nicht nur die Aufgabe der elterlichen Fürsorge, sie müssen Lehrer sein und gleichzeitig als Arbeitnehmer im Homeoffice Leistungen erbringen. Das gesamte System hat sich verändert. Zu Hause findet alles statt. Darüber hinaus sind Eltern mehr als sonst gefordert, die tägliche Informationsflut gerade über Corona einzuordnen, damit es nicht zu übertriebenen Ängsten kommt. Das sind große Herausforderungen für Familien. Selbstverständlich entstehen dadurch Konflikte, Überforderungsreaktionen, Unzufriedenheit und Streitigkeiten. Auch darunter leiden Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern zusammen.

Dr. Michael Kühlmann: Es gibt viele Familien, die das gut bewältigt haben. Das hängt auch von der städtebaulichen Struktur ab. In ländlichen Gebieten mit Einfamilienhäusern haben Kinder fast immer ein eigenes Zimmer, in Mietwohnungen in der Stadt kann das schon zu Konflikten führen. Da wird Corona zu einer sozial unterschiedlichen Belastungsprobe. Wenn aber die Schulen wieder zum vollständigen Präsenzunterricht zurückkehren, fürchte ich, wird das nicht auf Knopfdruck ohne Probleme funktionieren. Einfach den Schalter umlegen und sagen: Klasse, wir machen da weiter, wo wir im März 2020 aufgehört haben, das sehe ich nicht. Wir werden viele Kinder und Jugendliche bei diesem Neustart sehr gut begleiten müssen, mit Eingewöhnungsphasen. Die Schul-Psychologen und -Sozialarbeiter werden zunehmend mit Problemen konfrontiert. Es wird Schulängste geben, Leistungsstörungen, Verweigerungen, kurzum: massive Probleme.

Wenn Sie jetzt die Möglichkeit hätten, politisch einzugreifen, wo würden Sie den Hebel anlegen?

Dr. Michael Kühlmann: Durch mehrere Untersuchungen ist belegt, dass die Infektionsgefahr im Freien minimal ist. Deshalb sollte unbedingt Sport für Kinder draußen zugelassen werden. Wenn sich Jungs und Mädchen auf einem Sportplatz den Ball zuwerfen oder zuschießen, besteht kein Grund zur Panik. Wenn man im Abstand von zwei, drei Meter einen Waldlauf macht, ist das ebenfalls eine Möglichkeit. Das bringt auch soziale Kontakte und bietet andere Beschäftigungen als Computerspiele. Wobei man hier noch erwähnen sollte, dass Onlinespiele einen Suchtfaktor haben.

Huriye Löwenberg:Deshalb ist es so wichtig, den Medienkonsum zu begrenzen. Nicht zu verbieten, sondern zu begrenzen. Es müssen Medienzeiten und Regeln geben. Eine Hilfe im Umgang mit Kindern kann es sein, eine Vorbereitungszeit zu schaffen. Wenn ein Kind eine halbe Stunde das Handy nutzt, können Eltern fünf Minuten vor Ablauf der halben Stunde darauf hinweisen: In fünf Minuten ist Schluss. Wenn das konsequent verfolgt wird, wird es für Kinder zur Selbstverständlichkeit und löst keinen Wutausbruch aus. Auch als Eltern hat man die Aufgabe, die Mediennutzung den Kindern vorzuleben, wie sie in das Leben am besten integriert werden kann. Es ist das Modelllernen.