Arnsberg. Die Agnes-Wenke-Sekundarschule hat er als Zweitbester seines Jahrgangs abgeschlossen. Nun macht er eine Ausbildung.
„Wir mussten von heute auf morgen fliehen. Einfach so“, sagt Xoren, heute 16 Jahre alt. An diesem Tag reisen Grigor, seine Ehefrau und die beiden Söhne nach Tschechien. Doch dort will man sie offenkundig nicht, setzt sie kurzerhand in einen Bus und bringt sie an die Grenze zu Deutschland.
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3. November 2016
Xorens erste sechs Monate in Deutschland verbringen er und seine Familie in den verschiedensten Flüchtlingsunterkünften. Erst dann erhalten sie die kommunale Zuweisung. Heißt, die Familie wird in eine Kommune, hier Arnsberg, geschickt und darf mit ihrer Integration in Deutschland beginnen. Denn bis dato sind ihnen keine Integrationsmöglichkeiten gegeben. In den Unterkünften beginnt die Zeit des Wartens und zwangsweisen Nichtstuns. Ein regulärer Vorgang. In den Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) werden Geflüchtete registriert, ärztlich untersucht und stellen ihren Asylantrag.
Kurze Zeit später erfolgt der Umzug in eine Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) des Landes. Dort leben sie, bis sie einer Kommune zugewiesen werden, in der sie dann beispielsweise reguläre Deutschkurse oder Schulen besuchen können. In diesen meist bis zu sechs Monaten bleiben ihnen nur interne Lern- und Freizeitangebote der Einrichtung, in der sie leben. 17. Mai 2017. Xoren und seine Familie bekommen eine Adresse und ihr Zugticket nach Arnsberg. Jetzt gilt es für sie, sich rund 130 Kilometer durch die Fremde durchzuschlagen. Ohne Deutschkenntnisse oder Wissen über die Zugverbindungen. Die vierköpfige Familie zieht zunächst ins kommunale Flüchtlingsheim am Rumbecker Holz. Es dauert eine gewisse Zeit, bis sie eine eigene Wohnung in Neheim-Hüsten findet.
Heimweh spielte eine Rolle
Xoren und sein Bruder besuchen mittlerweile örtliche Schulen. Xoren ist 11 Jahre alt und geht zur Agnes-Wenke-Sekundarschule in Neheim – „ein Glückstreffer“, wie der Familienvater Grigor heute sagt. „Die beiden Lehrerinnen waren unser erster deutscher Kontakt und sie haben uns sehr geholfen über die ganze Zeit“, so Grigor. Xoren und sein Bruder lernen schnell Deutsch, sind in der Schule aktiv und integrieren sich vorbildlich. Xoren setzt sein Hobby fort: „Ich habe mit 6 Jahren angefangen, Schach zu spielen – in Armenien“. Jetzt trainiert er im SV Herdringen. Das Leben scheint sich zu richten. Scheint. Denn hinter der Fassade brodelt es. Xoren sei ein Stück weit auch sauer auf seine Eltern gewesen, bestätigt er: „Ja, normal. Meine Großeltern und Freunde sind ja alle in Armenien – und ich hier!“ Heimweh. Zukunftsangst. Perspektivlosigkeit.
Die gesamte Familie leidet unter der ungewissen Situation – erst recht als die Entscheidung des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) ins Haus flattert. Ein Bescheid, der eine horrende Rolle im Leben eines Asylbewerbers darstellt. Denn dieser entscheidet, ob jemand in Deutschland bleiben oder das Land innerhalb kurzer Zeit verlassen muss. Xorens Familie erhält eine negative Entscheidung. Sie soll zurück in das europäische Land, in welches sie zum ersten Mal einen Fuß gesetzt hat. Tschechien. „Aber dort wollte man uns nicht. Von dort hat man uns nach Deutschland gebracht“, sagt Grigor. Tatsächlich kann dem Jahresbericht 2017/18 der Amnesty International entnommen werden, dass Tschechien bis Ende 2017 lediglich 12 der 2691 zugewiesenen Menschen aufgenommen hat.
Die Befürchtung: Abschiebung
Xoren und seine Familie befürchten das Schlimmste: ihre Abschiebung nach Armenien. Das geht an die Nerven aller. Die psychische Labilität der Mutter lässt keine Abschiebung zu. Sie wird ausgesetzt, das Asylverfahren in Deutschland durchgeführt. Die Tortur geht weiter. Nach außen wirkt die Familie zielsicher, möchte Deutsch lernen, sich integrieren, Jobs finden und ein sicheres Leben in Deutschland starten. Im Inneren herrschen Unsicherheit, Angst und die Gewissheit, dass viele armenische Bekannte nicht in Deutschland bleiben durften. Denn Armenien ist grundsätzlich ein sogenanntes sicheres Herkunftsland.
Wochen, Monate und Jahre vergehen – das Asylverfahren liegt mittlerweile in den Händen des Verwaltungsgerichts. Xoren und seine Familie machen weiter. Sie geben nicht auf. Stets ihr Ziel vorm Auge. „Das war eine sehr schwierige Zeit für Xoren, was sich zwischendurch auch mal auf seine schulischen Leistungen auswirkte“, sagt Susanne Stegmann, Lehrerin an der AWS. Sie hat Xoren die Jahre über in Deutsch als Zweitsprache unterrichtet und die Familie im Alltag unterstützt. „Doch er hat die Kurve gekriegt und das Beste daraus gemacht!“
Juli 2022
Seit fünf Jahren lebt die Familie nun in Arnsberg. Und sie ist größer geworden – die nunmehr 3-jährige Tochter macht das Familienglück komplett. Xoren und sein Bruder kümmern sich liebevoll um das Nesthäkchen, das im Kindergarten von der Pike auf Deutsch und zuhause Armenisch lernt. Zweisprachig aufwächst. Vater Grigor hat einen A2-Deutschkurs absolviert und einen Job im Trockenbau gefunden. Xorens Mutter lernt ab August auf B2-Niveau und möchte danach eine Ausbildung zur Kosmetikerin machen. Der kleine Bruder hat noch ein paar Schuljahre vor sich. Xoren hat es geschafft, die Agnes-Wenke-Sekundarschule nach nur fünf Jahren mit einer zwei in Deutsch und einem für die gymnasiale Oberstufe qualifizierenden Realabschluss zu verlassen. Und das mit dem zweitbesten Jahrgangszeugnis. „Mein Notendurchschnitt ist 1,8“, sagt Xoren und lächelt.
Angemeldet am Berufskolleg Olsberg startet er ab August in seine Zukunft als „Staatlich geprüfter Informationstechnischer Assistent (ITA). Als Xoren dies erwähnt, strahlen die Augen seines Vaters. Er ist stolz auf seine Jungs. Denn er wünscht sich, dass sie all die Chancen erhalten, die ihm in seiner neuen Heimat Deutschland eher verwehrt bleiben – seinen ursprünglich in Armenien ausgeführten Beruf kann er allein aus sprachlichen Gründen in Deutschland nicht ausüben. Hinzu kommt, dass viele ausländische Ausbildungen in Deutschland nicht anerkannt werden. Inzwischen liegt die offizielle Aufenthaltsgenehmigung der Familie vor. Xoren kann aufatmen, denn er und seine Familie dürfen in Arnsberg bleiben. Es ist, als falle einem ein Fels vom Herzen – nun kann die Familie in Ruhe leben und ihre Ziele sorgenfrei verfolgen. Mit frischer Motivation und einer Perspektive. „Es gibt in Deutschland viele Möglichkeiten, etwas zu machen. Wir wollen diese wahrnehmen“, so Xoren.
Aktuell nimmt Xoren am großen „Sparkassen chess trophy 2022“ (B-Open) teil und an den 49. Internationalen Dortmunder Schachtagen vom 16. bis 24. Juli 2022. Es läuft gut – bislang mit einem Unentschieden und einem Sieg. Ein großer Wunsch Xorens ist es, Kindern in Grundschulen das Schachspielen zu zeigen und ihr Interesse dazu zu wecken. In einer Grundschule hat er seine Projektidee bereits vorgeschlagen und soll sich nach den Sommerferien dazu noch einmal melden.