Arnsberg. Bewegende Geschichten einer Migration: Wie Hasibe Hansoy aus der Türkei nach Arnsberg kam. Eine Biografie von vielen.

„Ich kaufe ein Radio und komme zurück“, diese Worte ihres mittlerweile verstorbenen Ehemannes vergisst Hasibe Hansoy nie. Denn sie verändern vor über 50 Jahren das Leben der damals 20-jährigen Laborantin der Hilfsorganisation ´Türkischer Roter Halbmond` quasi über Nacht. Der Ehemann, seinerzeit Fahrer des Tuberkulose-Konvois derselben Hilfsorganisation, reist zu seinem Bruder in die Niederlande, um dort ein Radio zu kaufen – und findet einen Job. Er bleibt. Hasibe will ihm folgen und landet in Deutschland. Eine Geschichte, die so nur das Leben schreiben kann.

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1961. Deutschlands Wirtschaft boomt – doch es fehlt weiterhin an Arbeitskräften. Also schließt die Bundesrepublik auch mit der Türkei ein Abkommen über die Anwerbung von sogenannten ´Gastarbeitern`. Die Türkei leidet zu diesem Zeitpunkt unter hoher Arbeitslosigkeit. In den fast zwölf Jahren des Anwerbeabkommens arbeiten knapp 900.000 Menschen aus der Türkei in deutschen Unternehmen. Alles war befristet gedacht.

Biografien der Einwanderung

Auch Arnsberg und Sundern sind Einwanderungsstädte. Seit Jahrzehnten leben hier Menschen, die aus verschiedensten Gründen aus anderen Ländern hierher gekommen sind.In einer losen Serie wollen wir verschiedene Biografien vorstellen – von Gastarbeitern, Geflüchteten oder Migranten, die hier aus diversen Motiven eine neue Heimat gefunden haben.Den Auftakt macht Hasibe Hansoy. Sie stammt aus der Türkei.

„Plötzlich stand er vor mir“

1969. Die Niederlande werben keine Frauen als Arbeitnehmerinnen an – nur Männer. Um in die Nähe ihres Ehemannes zu kommen, bewirbt sich die in Yerköy geborene junge Frau also um einen Arbeitsplatz in Deutschland. Mit Erfolg. Sie schreibt ihrem Ehemann einen Brief – denn mobile Telefone gibt es noch lange nicht. Selbst Telefone sind rar. Schon wenige Wochen später sitzt Hasibe Hansoy im Zug nach Neheim-Hüsten. Ihr Ziel: Trilux. Hier soll sie arbeiten und wohnen. Im hauseigenen ´Gastarbeiterinnen-Heim`. „Wir waren sechs Frauen. In Hagen mussten wir ein letztes Mal umsteigen. Abends um 21 Uhr dort angekommen, saßen wir mit unserem deutschen Dolmetscher am Bahnhof. Die Leute starrten uns an“, sagt Hasibe Hansoy.

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Drei Stunden harrt sie in der Fremde aus, bis sie ein bekanntes Gesicht sieht – ihren Ehemann. „Plötzlich stand er vor mir. Ein großartiges Gefühl, ihn in die Arme zu nehmen“, sagt sie. Er kann aus ihrem Brief nur den Ort entnehmen und fährt am geplanten Ankunftstag kurzerhand nach Neheim-Hüsten. „Ich habe ihm nicht geschrieben, wo genau ich arbeiten werde“, so Hasibe Hansoy. Also informiert er sich bei der Polizei, die ihn dann auf den Bahnhof in Hagen verweist.

1970. Viele Monate lebt Hasibe Hansoy in einem Vier-Bett-Zimmer mit weiteren Frauen aus der Türkei, Italien, Polen und Portugal. Das Heim umfasst 8 bis 10 Zimmer. „Wir wurden gut versorgt. Unsere Wäsche wurde gewaschen, die Zimmer gereinigt“, sagt sie. „Wir mussten nur runter gehen und arbeiten“.

Hasibe Hansoy als Hilfsarbeiterin bei Trilux.
Hasibe Hansoy als Hilfsarbeiterin bei Trilux. © Unbekannt | Privat

Ihr Ehemann bleibt in den Niederlanden. Doch 1970 verändert sich das Leben der beiden erneut. Hasibe und ihr Mann werden Eltern. Ihr erster Sohn ist unterwegs. Sie beantragen, dass auch ihr Ehemann in Deutschland bei Trilux arbeiten darf – mit Erfolg. Sie arbeitet am Fließband als Metallhilfsarbeiterin und er als Produktionshelfer. Sie suchen sich ihre eigenen vier Wände und ergattern eine Einzimmerwohnung in Neheim. Als der erste Sohn geboren ist, kann Hasibe Hansoy natürlich nicht aufhören zu arbeiten – sie würde ihre Aufenthaltsgenehmigung verlieren. Also passt eine Nachbarin auf das Baby auf, während Hasibe Hansoy und ihr Mann weiter malochen gehen. Mit einem Jahr schicken sie das Baby in die Türkei zu ihren Eltern. Schließlich kommen sie bald nach – so der Plan.

„Es war schwer, so schwer“

Die Anwerbeabkommen mit den unterschiedlichsten Ländern sehen nur eine kurze Laufzeit vor. Keinen Familiennachzug. Also geht es Hasibe Hansoy ebenso wie vielen anderen türkischen Arbeitern auch – irgendwann muss sie zurückgehen. „Wir haben immer gesagt, dass wir noch zwei Jahre bleiben und dann zurückgehen. Dann noch mal zwei Jahre. Und noch mal“, sagt sie. „Jetzt sind es über 50 Jahre!“

1972. Der zweite Sohn kommt zur Welt. Auch ihn muss das junge Ehepaar nach drei Monaten in die Türkei zu den Großeltern schicken. Bei einem 8-Stunden-Tag und manchmal auch einer Samstagsschicht bleibt keine Zeit – und Kindergärten, die den gesamten Tag über geöffnet haben, gibt es noch nicht. „Das war sehr schwer. Nur in den Ferien konnten wir die Kinder besuchen. Manchmal kamen sie nach Deutschland“, so Hasibe Hansoy. Sie schreiben sich Briefe. Viele Briefe. Die Großeltern haben kein eigenes Telefon. „Ich habe diese Briefe immer noch!“

Die Bezeichnung „Kofferkinder“ etabliert sich erst später (1985) und bezeichnet die Kinder von Arbeitsmigranten, die nicht selten lange von ihren in Deutschland arbeitenden Eltern getrennt sind. Es ist vom Anwerbeabkommen nicht vorgesehen, Familienangehörige einzubeziehen. Die Hansoys haben zwar zeitweise Unterstützung durch ihre Nachbarn, eine strukturierte Kinderbetreuung gibt es jedoch nicht.

1973. Deutschland beschließt den Anwerbestopp. Viele Menschen müssen sich entscheiden. Denn für sie stellt die Aufgabe des Arbeitsplatzes in Deutschland und eine Rückkehr in die Türkei eine endgültige Entscheidung dar. Die neuerliche Einreise zum Arbeiten wäre ausgeschlossen. Viele Menschen blieben. So auch Hasibe und ihr Mann.

„Ist das Muh-Fleisch?“

1979. Die Tochter, das letzte Kind, kommt zur Welt. Diesmal wollen es die Eltern selbst probieren. Insgeheim wird ihnen, so ihre Meinung heute, bewusst: Sie werden nicht mehr zurück in die Türkei gehen. Die deutsche Sprache fällt ihnen nach wie vor schwer. Natürlich lernen sie nebenbei im Alltag. Einen Kurs können sie nicht besuchen. Grammatik bleibt ihnen fremd. Hasibe Hansoy erinnert sich an ihre Anfänge – ihren Einkauf in der Metzgerei: „Ist das Muh-Fleisch?“„Nein. Grunz, grunz!“

Nachbarn und Bekannte unterstützen, wo sie können. Kommunale Hilfe gibt es für die Familie nicht. Deutschkurse rar. Behördliche Dinge erledigt das Trilux-Büro für sie.

1982. Töchterchen ist im Kindergarten angemeldet. Die vier Monate davor verbringt auch sie in der Türkei bei ihren Großeltern. Hasibe und ihr Mann planen, auch die beiden Söhne aus der Türkei nach Deutschland zu holen – wollen die Grundschulzeit abwarten.

1983. Der erste Sohn hat die Grundschule abgeschlossen. Mit 13 Jahren kommt er nach Deutschland. In ein fremdes Land, das er nur als Baby und Kleinkind kennengelernt hat. Ein Wurf ins kalte Wasser – aber endlich wieder bei Mama und Papa. Im selben Jahr kommt der zweite Sohn nach Deutschland - die Familie vereint.

Doch die eigentliche Arbeit beginnt jetzt. Die Kinder müssen Deutsch lernen, in der Schule bestehen. Sich integrieren. Sie werden in die Klasse gesetzt, müssen sich durchboxen, erhalten nur wenige Stunden in der Woche Unterstützung und kämpfen zudem mit ihrer Identität. Wer bin ich? Deutscher? Türke? Nur die Tochter lernt die Sprache von Grund auf. Sie steigt von Beginn an in das deutsche Frühbildungs- und Schulsystem ein. Für sie ist Deutschland ihr Zuhause.

„Die Menschen in Arnsberg, insbesondere Neheim-Hüsten, waren sehr nett zu uns. Wir haben keinen Hass erlebt. Wir haben viele neue Leute kennengelernt. Unsere Kinder haben Freunde gefunden. Aber stünde ich heute noch einmal vor dieser Entscheidung: Ich würde es nicht wiederholen!“, sagt Hasibe Hansoy mit Blick auf ihr Leben.

Die Türkei ist immer in ihrem Herzen. Neheim-Hüsten jedoch ihre Heimat. Nachdem ihr Ehemann vor vielen Jahren verstirbt, sagt sie es erstmals klar: Ich gehe nicht zurück in die Türkei. Mein Leben und meine Leute sind hier!