Medebach. Iryna May ist körperlich unversehrt in Medebach angekommen. Sie flüchtete vor dem Krieg und schrieb Tagebuch. Was hat sie erlebt, was fühlt sie?
Iryna May ist eine fröhliche Frau. Die 31-Jährige lächelt viel. Hier in einem Café in Medebach bestellt sie sich einen Cappuccino. Hier scheint der Krieg weit weg zu sein. Die Anstrengungen der vergangenen Tage, die Angst um sich und ihre Familie sind ihr zunächst nicht anzumerken. Dabei ist sie erst vor Kurzem vor Putins Angriffskrieg auf die Ukraine geflohen.
Lesen Sie auch: Wird dieser Winterberger der neue Schlagerstar auf Mallorca
Ein böses Erwachen
Gebürtig kommt sie aus einer kleinen ukrainischen Stadt in der Nähe von Lemberg. Mit zwölf Jahren sei sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach Medebach ins Sauerland ausgewandert, berichtet sie. Hier habe sie Deutsch gelernt, die Schule durchlaufen, BWL studiert und danach vier Jahre in den USA für Volkswagen gearbeitet. Vor sechs Monaten sei sie schließlich zu ihrem ukrainischen Freund nach Lemberg gezogen. „Dort leite ich den Einkauf im Familienbetrieb meines Freundes Nikolai. Ein Unternehmen mit über 500 Angestellten“, sagt sie und nippt an ihrem Kaffee. Bis zum letzten Tag habe niemand in ihrem Umfeld geglaubt, dass die Russen wirklich einmarschieren würden. Das Auswärtige Amt, May hat einen deutschen Pass, habe sie zwar gewarnt und zur Ausreise geraten, doch sie selbst habe einfach nicht an einen Angriff geglaubt. In der Nacht zum 24. Februar seien sie und ihr Freund ohne große Angst ins Bett gegangen - mit schönen Gedanken an den bevorstehenden Urlaub in Südafrika. Das, was folgte, hat May in kleinen Tagebucheinträgen festgehalten:
Tag 1 der Invasion:
Ich wache auf von einem Anruf. Die Mutter meines Freundes ruft an und sagt mit einer ganz ruhigen Stimme: „Bitte zieht euch sofort an und kommt zu uns, Russland greift die Ukraine an“. Auf einmal wird es still um mich herum, ich stehe auf, ziehe mich an und packe meinen deutschen Pass ein. Mein Freund, sein Hund Bruno und ich rennen los. Angekommen in dem Elternhaus meines Freundes beeilen wir uns, die wichtigsten Sachen für den Keller einzusammeln. Wir tragen Matratzen in den Keller, sammeln Medikamente ein, Lebensmitteln, kleben kleine Fenster in dem Keller zu, um Glassplitter im Falle einer nahen Explosion zu reduzieren und besprechen, was man tun muss, wenn die Sirenensignale kommen. Schon allein bei der Erklärung wird mir übel. In der ersten Nacht schlafen wir kaum. Wenn die Sirene losgeht, legen wir uns auf den Boden und halten unsere Ohren zu. In dieser Nacht versuchten die Russen den Flughafen von Lemberg zu zerstören, ohne Erfolg.
Lesen Sie auch:Ukraine-Krise: Hilfe aus Brilon kommt in Grenzort an
May kämpft mit den Tränen, als sie diese Zeilen vorträgt. Einen Tag vorher hatte sie sich bereit erklärt, ihre Erlebnisse vor Publikum vorzutragen. Doch da habe ihr die Stimme versagt. Mit Schrecken erinnert sie sich an den Anruf, dass nun Krieg herrscht. „Ich dachte, mein Herz bleibt stehen“, sagt sie. Auch die Anrufe ihrer Mutter aus Deutschland werde sie wohl nie wieder vergessen. Die ukrainischen Medien berichten, wie man sich am besten bei Raketenbeschuss verhält. Bei einem lauten Knall den Mund aufmachen, um die Ohren zu schützen, heißt es da unter anderem. May: „Ich verspürte Panik“.
Tag 2:
Am nächsten Tag wissen wir, dass wir schnell handeln müssen und aus der großen Stadt raus müssen, wir fahren los in die kleinere Stadt Khodoriv. Dort befinden sich der Schlachtbetrieb und das Unternehmen für Fleisch und Wursthandel meines Freundes. Wir verstecken uns dort in einem Haus von Freunden, die am ersten Tag der Invasion ins Ausland geflohen sind. Die zweite Nacht ist ähnlich wie die erste, wir schlafen kaum. Der ständige Lärm von Alarmsirenen und Kampfflugzeugen, die über uns hinwegfliegen, lassen uns keine Ruhe. Die Angst vor Bomben ist allgegenwärtig.
May atmet tief durch. Die Medien hätten dazu aufgefordert, Markierungen von russischen Saboteuren zu verdecken. Diese Kreise mit Kreuzchen habe sie selbst gesehen, sagt May. Das Radio im Hintergrund des Cafés in Medebach spielt einen schnulzigen Popsong. Trotz der schlimmen Situation seien die Ukrainer untereinander sehr hilfsbereit gewesen, erinnert sie sich. Wildfremde Leute hätten einander geholfen.
Tag 3:
Am dritten Tag bricht bei uns erneut Panik aus. Männer ab 18 Jahren werden aufgerufen, sich für den Krieg anzumelden. Wir entscheiden uns weiter zu flüchten in die Karpaten, ein Gebirge im Südwesten der Ukraine. Nach fünf Stunden Fahrt kommen wir in einem Gebetshaus ohne eine richtige Heizung bei -4 Grad tief in den Karpaten an. Die erste Nacht dort können wir durchschlafen. Die erste Nacht, in der wir keine Sirenen hören.
WP-Newsletter per Mail: Was ist los in Brilon, Olsberg, Marsberg, Winterberg, Medebach und Hallenberg? Holen Sie sich den Newsletter für Ihren täglichen Nachrichtenüberblick
Mit insgesamt zehn Familienmitgliedern und fünf Freunden aus Kiew harren sie dort in Sicherheit aus. „Wir haben dort gefroren wie verrückt“, erinnert sich May. Hier bekommt sie erstmals die Möglichkeit, alleine über die Grenze zu flüchten. Doch sie lehnt ab. Ihre Familie in Deutschland hätten diese Entscheidung nicht nachvollziehen können. May schüttelt mit dem Kopf: „Ich auch nicht mehr“, sagt sie.
Tag 4:
So fest wir auch daran glauben, dass alles nur ein Traum ist, verschlechtert sich die Lage im Land weiter. Die Mobilisierung von jungen Männern ab 18 Jahre wird verstärkt, die Lieferketten von lebenswichtigen Sachen bricht nach und nach zusammen, die Panik vor einem Angriff in jeder Stadt wird immer größer. Wir entscheiden uns, wieder nach Khodoriv zu fahren, zu dem Fleischunternehmen meines Freundes, um alle Wurstwaren, die noch im Lager sind, rauszugeben, um die Menschen vor Ort zu versorgen. Meine erste Schockstarre ist vorbei. Mir wird sehr schnell klar: Von Deutschland aus kann ich besser helfen als vor Ort. Ich möchte Hilfslieferungen organisieren, die in der Ukraine sehr dringend gebraucht werden. So schwer mir auch die Entscheidung fällt, bitte ich meinen Freund, mich und unseren Bruno am nächsten Tag zur rumänischen Grenze zu fahren.
„Slawa Ukrajini“, „Ehre der Ukraine“ oder „Hoch lebe die Ukraine“. Mit diesen Worten begrüßen sich mittlerweile alle Ukrainer. Denn einen „Guten Tag“ gebe es einfach nicht mehr, sagt May.
Tag 5:
Nach zwei Stunden Schlaf wache ich von einem Anruf auf, ein Mitarbeiter meines Freundes ist dran und fragt, ob ich seine Frau und sein kleines Kind mitnehmen kann. Die junge Mutter und ihre Tochter warten bereits vor der Haustür. Um 6 Uhr morgens machen wir uns auf den Weg nach Rumänien. Dort sei die Grenze nicht überfüllt. Das hören wir von den Freunden und Bekannten, die seit 60 Stunden an den polnischen Grenzen stehen. Vor der Grenze fährt mein Freund zurück und ich fahre weiter, erst weiter nach Ungarn, dann nach Österreich und dann weiter zu meinen Eltern nach Medebach. Wir waren zwei Tage unterwegs, die ganze Fahrt über fühlten wir uns wie auf einer Flucht, obwohl wir bereits in Sicherheit waren. Das Wiedersehen mit meinen Eltern ist dieses Mal anders, an diesem Abend kann ich mich nicht mit meinen Eltern unterhalten, es kommt kein Wort aus mir raus, nur Panik vor der Ruhe, die in unserer Stadt herrscht.
Eine Träne fließt über Mays Gesicht. Die Situation in ihrem Zimmer in Medebach sei ihr so surreal vorgekommen. Fernab von Gefahr, Angst und Hektik - vom Krieg. Es sei alles so friedlich hier. Außerdem sei sie überwältigt von der Hilfsbereitschaft der Medebacher.
Und heute? Ein großer Teil ihrer Familie sei weiterhin in der Ukraine. Ihr Freund sei aktuell auch in Medebach. Er habe mehrere Flüchtlinge über die Grenze gebracht. Wie durch ein Wunder hätten ihn die Grenzbeamten durchgelassen. Doch bald schon werde er wieder in die Ukraine reisen- denn er sei für die Verteidigung seines Unternehmens eingeteilt.