Brilon. Angst vor Corona-Ansteckungen - Patienten sagen OPs ab. Zwei Ärzte vom Krankenhaus Brilon über die Folgen und das Ansteckungsrisiko in Kliniken.
Immer mehr Operationen und Vorsorgeuntersuchungen werden aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus verschoben. Das bestätigt das Städtische Krankenhaus Maria-Hilf in Brilon. Die Zahl der Operationen sei um 30 Prozent zurückgegangen. Dr. med. Marc Garbrecht, Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie, sowie sein Kollege Dr. med. Martin Pronadl von der Allgemein- und Viszeralchirurgie warnen vor gefährlichen Folgen, sollten wichtige Beschwerden oder Untersuchungen zu lange ignoriert werden. Sie erklären außerdem, wie hoch das Ansteckungsrisiko im Krankenhaus wirklich ist.
Kommen weniger Patienten zu Vorsorgeuntersuchungen und Operationen ins Krankenhaus Maria Hilf Brilon?
Dr. Martin Pronadl: Wenn ich mir die Zahlen unserer Operationen anschaue, dann kann ich von rund 30 Prozent weniger Eingriffen sprechen als es normalerweise der Fall wäre. Aktuell habe ich einen Patienten, der schon sehr lange Beschwerden hatte und nicht ins Krankenhaus gekommen ist. Schlussendlich hat ihn der Hausarzt überwiesen. Wir operieren aktuell außerdem sehr viel in der Nacht. Viele reizen ihre Beschwerden so lange aus, bis sie nicht mehr auszuhalten sind und ein Krankenwagen gerufen werden muss. Die Folge ist eine Notoperation, die auch nachts stattfindet.
Dr. Marc Garbrecht: Ich hatte einen ähnlichen Fall, erst vor kurzer Zeit. Ein junger Patient hatte sieben Tage lang starke Schmerzen in der Brust, die in beide Arme ausgestrahlt sind. Als die Schmerzen nicht mehr aufhörten, kam er zu uns ins Krankenhaus. Diagnose war ein ausgedehnter Vorderwandinfarkt. Wir konnten die Arterie rekanalisieren, aber das lange Warten wird langfristige Folgen haben, wie massive Leistungseinschränkungen. Wer zu lange mit diesen Beschwerden nicht ins Krankenhaus geht, kann ernste Schädigungen davon tragen bis hin zu einer deutlich verringerten Lebenserwartung.
Warum warten die Menschen so lange, bis sie ins Krankenhaus gehen? Ist es die Angst vor einer Ansteckung mit COVID-19?
Dr. Marc Garbrecht: Ja, die Menschen haben Angst, sich im Krankenhaus zu infizieren. In den Medien liest man immer wieder von Ausbrüchen in Kliniken. Im HSK gibt es kaum eine Klinik, in der es nicht einen kleinen oder großen Ausbruch gegeben hat.
Bringen auch Besucher das Virus ins Krankenhaus?
Dr. Marc Garbrecht: Schnelltests schlagen nur bei einer großen Viruslast an, ihre Sensitivität variiert. Ist die Viruslast allerdings nicht so groß und der Test schlägt nicht an, können Besucher in das Krankenhaus gelangen und tragen das Virus mit sich. Schnelltests können also keine absolut sicheren Ergebnisse liefern und nicht in jedem Krankenhaus gibt es ein Labor um PCR-Tests auszuwerten, die sicherere Ergebnisse liefern. Natürlich muss man eine Grenze ziehen. Wenn es um Palliativpatienten geht oder um werdende Mütter, muss ein Besuch erlaubt sein. Wir messen Fieber und führen so ein kleines Screening durch, bevor überhaupt jemand in die Klinik gelangt. Aber man kann das Ansteckungsrisiko nicht vermeiden, auch wenn es sehr gering ist.
Glauben Sie, dass viele Menschen die Behandlung im Krankenhaus hinauszögern, weil sie keinen Besuch bekommen dürfen?
Dr. Marc Garbrecht: Das ist bestimmt ein Faktor, der entscheidend sein kann.
Aber das Warten kann gefährlich sein, wie sie sagen.
Dr. Marc Garbrecht: Die Übersterblichkeit in Deutschland hat deutlich zugenommen. Um die 30 oder 35 Prozent im ersten Halbjahr 2020. In diesem Zeitraum hat es rund 10.000 Corona-Tote gegeben, aber 30.000 Tote aufgrund eines Herzinfarktes. Wer kardiologische oder neurologische Beschwerden hat, sollte niemals abwarten. Wer darauf vertraut, dass Beschwerden von allein wieder verschwinden, der ist falsch beraten.
Dr. Martin Pronadl: Krebs kennt kein Wochenende, sagt man. Viele Menschen gehen aktuell nicht zur Vorsorgeuntersuchung. Das habe ich auch von unserer gynäkologischen Station gehört. Selbst wenn eine Krankheit diagnostiziert wurde, warten viele lieber ab. Das muss man kritisch sehen.
Dr. Marc Garbrecht: Natürlich ist die gefühlte Angst der Menschen auch ein Stück weit berechtigt. Ein frisch operierter Patient der an COVID-19 erkrankt hat eine sieben- bis achtfache höhere Sterblichkeit. Das perioperative Risiko ist mit einer COVID-Erkrankung deutlich erhöht.
Ist das bei einer normalen Grippe-Erkrankung ebenfalls erhöht?
Dr. Marc Garbrecht: Die Sterblichkeit ist mit COVID-19 höher, da bei diesem Virus die Trombose-Gefahr höher als bei der Grippe ist. Deswegen wäre es auch von Anfang an sinnvoll gewesen, Patienten die vor einer dringlichen oder zeitnah erforderlichen OP stehen bei der Impfpriorisierung zu berücksichtigen.
Dr. Martin Pronadl: Es ist ein großer Schritt, dass die Hausärzte nun an den Impfungen beteiligt werden. Sie kennen ihre Patienten am besten und können selbst über eine Priorisierung entscheiden. Ein kerngesunder 60-Jähriger braucht eine Impfung weniger dringend als ein 35-Jähriger der zur Dialyse muss.
Und trotz der Risiken einer Ansteckung im Krankenhaus sagen Sie: Lieber zum Arzt und ins Krankenhaus als abwarten?
Dr. Martin Pronadl: Ich hatte sehr lange keinen COVID-Fall mehr vor mir.
Dr. Marc Garbrecht: Trotz der hohen Inzidenzen haben wir eine sehr stabile Situation. Aktuell liegen drei COVID-Fälle hier im Krankenhaus (Stand 29. April, Anm. der Red.)
Dr. Martin Pronadl: Mit Beschwerden sollte man nicht alleine entscheiden, was zu tun ist. Man sollte stets seinen Hausarzt konsultieren, der die Grenzen besser erkennen kann und weiß, ob es sinnvoll ist zu warten oder sich in eine Behandlung zu begeben.