Neuwied. Eine Einrichtung wagt den Versuch: Mehr Hilfe und weniger Einsamkeit für Bewohner und Pfleger durch smarte Videoboxen. Ein Besuch.
Vorsichtig beugt sich Rainer Heise nahe an die kleine weiße Box auf seinem rustikalen Holzschreibtisch. „Alexa, wie wird das Wetter heute?“, fragt der 79-Jährige. Auf dem Bildschirm der Box beginnt ein blauer Streifen zu leuchten – Alexa hat die Frage korrekt verstanden. Sekunden später antwortet der Sprachassistent über seine Lautsprecher: „In Neuwied beträgt die Temperatur 26 Grad und es ist mit Gewittern zu rechnen“, auf dem Display erscheinen Regenwolken. „Das mit dem Wetter ist schon hilfreich“, sagt Heise und lächelt.
Als nächstes fragt er: „Alexa, was kommt heute Abend im Fernsehen?“, die mit dem Internet verbundene Box liest ihm das Programm der TV-Sender vor. „Man muss nur die Fragestellung richtig hinkriegen“, weiß der Rentner.
Amazon stattet erstes Seniorenheim mit Alexa-Boxen aus
Rainer Heise lebt seit dreieinhalb Jahren im Seniorenzentrum Heinrich-Haus im rheinland-pfälzischen Neuwied bei Koblenz. Der frühere Soldat und begeisterte Bergsteiger ist einer von bislang acht Bewohnerinnen und Bewohnern seiner Senioreneinrichtung, die einen Amazon-Sprachassistenten mit Bildschirm in ihrem Zimmer nutzen können. Das Heinrich-Haus, das zur Josefs-Gesellschaft (JG) gehört, ist die überhaupt erste Sozialeinrichtung in Deutschland, die von Hersteller Amazon mit Alexa-Geräten ausgestattet worden ist – ein Pilotprojekt.
Das Bildschirm-Modell „Echo Show“ wird sonst von Menschen gekauft, die ihr Zuhause in ein Smarthome verwandeln wollen. Hier in Neuwied wird seit Anfang des Jahres ausgelotet, wo die schlauen Boxen das Leben pflegebedürftiger Seniorinnen und Senioren verbessern können. Alexa trifft Altenheim.
Essensplan, Wetterbericht, Videoanrufe: Hier hilft die Box
Die freiwillig teilnehmenden Bewohner können sich per Sprachbefehl oder Fingertippen den Essensplan anzeigen lassen und Mahlzeiten wählen, sich Veranstaltungen des Heims auf den Bildschirm holen oder die Wettervorhersage, Radiosender abspielen oder Videoanrufe mit zuvor festgelegten Bewohnern und Angehörigen führen. Oder Alexa nach der Lösung für das Kreuzworträtsel fragen.
Zukünftig sei es sogar angedacht, sagt JG-Geschäftsführer Andreas Rieß, dass Herr Heise und die übrigen Bewohner ohne Hilfe des Pflegepersonals per Sprachbefehl ihre Fensterrollläden oder die Zimmertemperatur hoch- und runterfahren oder sogar das Zimmerlicht steuern können – Smarthome im Seniorenheim. Die Idee ist es, erklärt Rieß, den älteren Männern und Frauen in ihrem Wohnbereich „ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben“ zu ermöglichen und zugleich das Pflegepersonal zu entlasten.
Alexa-Experiment: Heimleitung, Pflegende und Bewohner früh eingebunden
Der Kontakt zum Tech-Konzern Amazon kam vor rund einem Jahr zustande. Die katholische Josefs-Gesellschaft mit ihren Häusern in sechs Bundesländern sei schon davor offen gewesen, sich in allen Bereichen digital aufzustellen, sagt Rieß. Anders als privat geführte Häuser müsse man aber auch keine Rendite-Erwartungen erfüllen.
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Vor der Einführung fand im Haus eine Reihe an Treffen und Workshops statt – mit der Heimleitung, den Mitarbeitenden, Angehörigen und den rund 80 Bewohnern. „Ohne die machen wir nichts“, sagt Rieß. Manche seien sofort interessiert gewesen, andere hätten die Technik von vornherein abgelehnt.
Besonders gewünscht wurde sich der Abruf den Essensplans, Videotelefonate sowie die Möglichkeit, Veranstaltungen live oder später am Bildschirm anzusehen, wenn man etwa krank das Bett hüten musste, erzählt René Ehlen, der die Reha-Abteilung der JG leitet. Seit Februar sind die ersten Alexa-Geräte in den Zimmern im Einsatz.
Datenschutz: Wie sicher sind die Amazon-Boxen im Heim?
Höchsten Wert, betonen Rieß und Ehlen, lege man auf den heiklen Punkt Datenschutz. Die Bewohner können Mikrofon und Kamera jederzeit per Knopfdruck ausschalten oder die Kameraabdeckung schließen. Sämtliche Alexa-Boxen laufen über ein gemeinsames Nutzerkonto der Josefs-Gesellschaft, mit Unterkonten für das Heinrich-Haus und die einzelnen Zimmer.
Anders als bei privat genutzten Alexa-Geräten, erklärt Ehlen, speichern die Sprachassistenten daher weder Gesprächsfetzen noch Verläufe davon, was Bewohner wie und wann mit ihrer Box angestellt haben. Die Notrufanlagen auf den Zimmern würden immer analog bleiben – gesetzlich vorgeschrieben.
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„Wir haben keine direkte Vertragsbeziehung zu Amazon“, betont Ehlen. Der Konzern habe lediglich die Echo-Geräte gesponsert. Neue altersgerechte Funktionen für diese entwickelt der IT-Dienstleister DiscVision aus Paderborn, dort landeten auch anonymisiert sämtliche Daten. Einkaufen können Bewohner dadurch über ihre Alexa-Boxen nicht und aus Lizenzgründen auch keine Musik- oder Videostreamingdienste wie Youtube abspielen.
Einzigartiges Pilotprojekt in Deutschland
In Deutschland ist das Alexa-Pilotprojekt bislang einzigartig. Gleichzeitig sammelt der Konzern mit seinem Programm, genannt Alexa Smart Properties for Senior Living, Erfahrungen in anderen Ländern. In Frankreich ist Alexa laut Aussage des Konzerns bereits in einzelnen Häusern einer Gruppe verfügbar, in Großbritannien und Italien ebenfalls.
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„Wir möchten die Bewohnerinnen und Bewohner dabei unterstützen, unabhängiger zu leben und einfach in Verbindung zu bleiben, auch wenn sie nicht so mobil sind, wie sie es gerne wären“, sagt Amazons Alexa-Verantwortliche Meryem Thomas unserer Redaktion. In Hotels kommen die Assistenten ebenfalls zum Einsatz.
Rollläden schließen per Sprachsteuerung
Vorteile sieht die JG-Gruppe auch bei der Nachhaltigkeit: Dort wo die Essensauswahl über die Geräte läuft, könne die Küche genauer liefern, weniger Essen werde weggeworfen. Als nächsten Schritt prüfe man die Ausstattung jener eigenen Häuser, in denen körperlich stark eingeschränkte Menschen wohnten. „Die perfekte Zielgruppe für Sprachassistenz“, sagt Ehlen.
Auch demenzkranke Menschen könnten von den digitalen Helfern profitieren. Die Josefs-Gesellschaft sei mit seinem Angebot „früh dran“, meint er. In fünf Jahren schon würden die Akzeptanz wie auch der Bedarf deutlich größer ausfallen.
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„Alexa, rufe Melanie an“, sagt Rainer Heise in seine Echo-Box. Auf einer Bildschirmkachel erscheint Heimleiterin Melanie Schuchmann. „Die Pflegekräfte haben ebenfalls Spaß damit“, sagt sie. Abstriche bei der Pflege und persönlichen Gesprächen würden trotz Alexa nicht gemacht.
„Für uns Bewohner ist das hier ein Gedicht“, sagt der technikbegeisterte Rentner mit einer unheilbaren Beinerkrankung. „Was ich noch aus eigener Kraft machen kann, mache ich auch allein“, sagt Heise. Er freue sich schon, wenn er irgendwann seine Rollläden vom Bett aus schließen könne.