Berlin. Sind Küsse besser als Sex? Und wie können Paare das Küssen wieder neu für sich entdecken? Experte Wolfgang Krüger gibt wertvolle Tipps.

6 erstaunliche Fakten rund ums Küssen

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    Bei einem Kuss zeigt unser Körper ganz schön Einsatz: Rund 150 verschiedene Muskeln werden aktiv – 34 davon allein im Gesicht. Der Blutdruck steigt, das Herz schlägt schneller. Je nachdem wie intensiv wir küssen, verbrennen wir etwa zwei bis sieben Kalorien pro Minute.

    Gleichzeitig produziert unser Körper jede Menge sogenannter Glückshormone – unter anderen Oxytocin, Serotonin und Dopamin. Auch unser Immunsystem wird angeregt: Das sagt all den Bakterien und Viren, die wir von unserem Gegenüber neben diversen Botenstoffen unweigerlich vermacht bekommen, den Kampf an.

    Zum Internationalen Tag des Kusses am 06. Juli erklärt Psychologe und Philematologe – übersetzt: Kussforscher – Wolfgang Krüger, was einen guten Kuss ausmacht und warum Küssen immens unterschätzt wird.

    Herr Krüger, warum küssen wir uns überhaupt?

    Wolfgang Krüger: Das Küssen ist uralt, soviel steht fest. Es wird bereits in alten indischen Sanskrit-Schriften erwähnt. Doch warum wir uns genau küssen, ist nicht hundertprozentig geklärt. Es gibt verschiedene Theorien: Einmal, dass Mütter für die Neugeborenen Nahrung vorgekaut und per Mund übertragen haben und aus diesem oralen Vorgang das Küssen entstanden ist. Zudem könnte es sein, dass aus dem Beschnüffeln zum Kennenlernen des anderen, das man aus dem Tierreich kennt, durch den aufrechten Gang später ein Küssen wurde.

    Ums Kennenlernen geht es beim Küssen ja noch heute.

    Krüger: Absolut. Studien zeigen: Insbesondere Frauen wissen in dem Augenblick, indem sie einen Mann küssen ganz genau, ob er zu ihnen passt oder nicht. Das gleiche gilt natürlich für potenzielle Partnerinnen. Ein Kuss offenbart unendlich viel vom Charakter des anderen.

    Inwiefern?

    Krüger: Er zeigt die Sozialkompetenz – eine der beiden Grundvoraussetzungen für gutes Küssen. Also ob das Gegenüber gut zuhören und sich in mich hineinversetzen kann. Man muss erspüren, was der andere gerade beim Küssen braucht, wie weit er ist. Außerdem braucht es ein leidenschaftliches Ego – einmal um antworten zu können, aber auch um Dinge vorzuschlagen beim Küssen, dass man mit seiner Zunge leidenschaftlich spricht. Einer der beiden Anteile ist meist etwas stärker ausgeprägt. Manche dagegen haben gar kein Einfühlungsvermögen oder sind schlicht zu egoistisch.

    Wie wichtig ist das Küssen aus ihrer Sicht in einer Beziehung?

    Krüger: Enorm wichtig: Frisch verliebte Paare machen vor allem zwei Sachen: Sie lachen miteinander und küssen sich ständig. Das ist intensivste Form zu spüren, dass wir zusammen gehören. Küssen ist die intensivste Form der körperlichen Annäherung –­ intensiver als Geschlechtsverkehr.

    Intensiver als ein Orgasmus?

    Krüger: Ja, das ist durchaus möglich. Beim Küssen sind alle klassischen fünf Sinne beteiligt: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten. Zudem stecken in unseren Lippen pro Quadratzentimeter die meisten Sinneszellen. Deshalb geraten wir beim Küssen regelrecht in einen kleinen erotischen Rauschzustand. Ein langer leidenschaftlicher Kuss hat eine so große explosive Wirkung, dass wir es mitunter fast nicht mehr aushalten. Ein guter Kuss bläst uns das Gehirn weg.

    Kommt vermutlich auf den Kuss an. Was braucht es dafür?

    Krüger: Zwar sind Küsse immer individuell. Aber alle guten Küsse haben ein ähnliches Grundrezept: Sie sind wie eine Melodie, wie ein sehr leidenschaftliches Gespräch, was sich steigert durch etwas Neues, etwas Überraschendes, etwas Interessantes. Das könnte sein, dass wir plötzlich auf eine andere Weise küssen, schneller küssen, dass wir mit der Zunge plötzlich die Lippen des anderen erkunden oder länger küssen, als wir das sonst gewohnt sind.

    Je länger die Beziehung, desto kürzer werden die Küsse aber meist.

    Krüger: Das stimmt leider. Die Küsse verflachen, in den meisten Fällen, wenn man sich einige Zeit kennt und werden im Laufe der Zeit zu geschwisterlichen Ritualen. Das Küssen ist auch die erste Sache, die eingestellt wird, wenn man sich auseinanderlebt. Teils haben Partnerschaften nur noch den Charme einer Wohngemeinschaft – doch Sexualität gibt es trotzdem noch. Das Küssen aber wird gemieden. Küssen ist einfach die stärkste Form der Annäherung von zwei Menschen. Und das geht am ehesten kaputt.

    Kann man gegensteuern?

    Krüger: Klar. Was wir hinkriegen müssten ist, dass wir uns den leidenschaftlichen Kuss in Beziehungen wiedererobern. Dass wir wieder wie die Verliebten beginnen, uns Zeit nehmen und eng zusammenstehen. Mein Tipp wäre: Wirklich drei, vier, fünf Minuten küssen und dann merkt man, dass das Küssen plötzlich wieder eine ganz aufregende, neue Begegnung wird. Grundvoraussetzung ist aber das Gefühl einer großen Vertrautheit, einer großen Nähe, dass wir überhaupt den Wunsch haben, den anderen zu küssen. Ganz ohne geht es nicht.

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      Ist das beim Sex anders?

      Krüger: Absolut. Ich kann durchaus mit jemandem schlafen, wenn ich in einem Sex-Notstand bin und das auch genießen. Selbst dann, wenn der andere mir nicht wirklich zusagt. Das gilt insbesondere für Männer. Aber das Küssen setzt voraus, dass ich eine große Sympathie für mein Gegenüber habe, mich sehr zum anderen hingezogen fühle.

      Also wird Sex überbewertet und das Küssen unterschätzt?

      Autor und Psychologe Wolfgang Krüger verknüpft das Küssen eng mit der Persönlichkeit eines Menschen.
      Autor und Psychologe Wolfgang Krüger verknüpft das Küssen eng mit der Persönlichkeit eines Menschen. © Unbekannt | rolf kremming/picture alliance

      Krüger: Leider ja. Es gibt etwa 10.000 Sex-Ratgeber, aber nur rund 200 Bücher über das Küssen. Dabei ist Küssen eigentlich viel wichtiger. Es ist quasi ein Gradmesser dafür, wie gut es um eine Partnerschaft steht. Selbst in der Wissenschaft ist der Kuss noch immer ein Nischenthema. Genau wie das Thema Umarmungen wird auch das Küssen aus meiner Sicht viel zu sehr unterschätzt. Ich kann allen nur empfehlen: Küsst euch regelmäßig, lange und intensiv. Aber natürlich nur, wenn das Gegenüber das auch will.

      Zur Person

      Dr. Wolfgang Krüger ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Berlin. Partnerschaftsprobleme sind ein Schwerpunkt seiner Arbeit. Zudem veröffentlichte Krüger diverse psychologischer Sachbücher – unter anderem zu den Themen Liebe, Partnerschaft und Sexualität.

      Als Tiefenpsychologe verknüpft er das Küssen eng mit der Persönlichkeit eines Menschen und mit dessen Leben. Genau das macht das Ganze nach seiner eigener Aussage aber ausgesprochen interessant, aufregend und tiefgründig.