Essen. Die Doku „Glück ist mein Name – Eine Stimme gegen Femizid“ begleitet eine Frau, die brutale Gewalt erfahren hat – aber nicht aufgibt.
„Femizid“, das klingt abstrakt, technisch. Dabei steht hinter dem Begriff, der die Ermordung von Frauen wegen ihres Geschlechts bezeichnet, ein enormer Horror: Weltweit wurden im Jahr 2022 fast 89.000 Frauen und Mädchen vorsätzlich umgebracht, wie die Vereinten Nationen berichten – und die Dunkelziffer liege vermutlich noch deutlich höher, da bei vielen Todesfällen keine genauen Informationen zu den Hintergründen vorliegen. In 55 Prozent der Fälle sind die Täter Partner oder Familienmitglieder; jeden Tag starben im Jahr 2022 also 133 Frauen und Mädchen durch die Hand einer Person, die ihnen nahestand.
Vor diesem Hintergrund erzählt die Dokumentation „Glück ist mein Name – Eine Stimme gegen Femizid“ der Co-Regisseure Nick Read und Ayse Toprak (am Dienstag, 21. Mai um 21.45 Uhr bei Arte sowie in der Arte-Mediathek) das bewegende Schicksal der Kurdin Mutlu Kaya, die durch frauenfeindliche Gewalt jäh aus ihrem bisherigen Leben gerissen wurde – und damit traurigerweise alles andere als allein ist.
„Glück ist mein Name – Eine Stimme gegen Femizid“: Ein Traum scheint wahr zu werden
In Rückblenden aus Privatvideos und TV-Ausschnitten bewegt sich der Film schrittweise auf jenen Moment zu, der Mutlus Leben für immer verändert: Die junge Kurdin stammt aus Ergani im Südosten der Türkei. Dort wächst sie in einfachen Verhältnissen auf, bricht die Schule ab, um mit ihrer Schwester in der Schulkantine zu arbeiten und so die Familie aus Eltern und acht Geschwistern mit durchzubringen. Als eine Freundin 2015 ein Video von Mutlu zu einem Gesangswettbewerb schickt, scheint daraus ein Aschenputtel-Märchen zu werden: Die bekannte Sängerin Sibel Can nimmt die damals 19-Jährige unter ihre Fittiche, mit einer gefeierten Darbietung eines folkloristischen Klageliedes sichert sich die Teenagerin einen Platz im Finale der Show. „Mutlu“ heißt auf türkisch „glücklich“, scheinbar zurecht.
Als sie für die Endrunde probt, stellt ihr – nicht zum ersten Mal – ein Mann nach, der ihr schon vor Jahren Avancen gemacht hat und dessen Heiratsantrag Mutlu zurückgewiesen hat. Nun bedroht er sie, will verhindern, dass sie weiter auftritt. Als sie sich weigert, schießt er ihr in den Kopf. Mutlu überlebt nur knapp, wochenlang liegt sie im Koma. Über Jahre hinweg muss sie mühsam wieder laufen, sprechen und singen lernen; noch heute ist sie von dem Anschlag schwer gezeichnet. Als 2020 auch noch ihre Schwester Dilek, von der sie liebevoll gepflegt wurde, von ihrem Freund ermordet wird, nimmt Mutlu trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit den Kampf gegen eine Welt auf, die Frauen zu wenig schützt.
Das Porträt einer starken Stimme gegen Frauenmorde – und ihrer Familie
„Ich muss weitermachen. Musik ist alles für mich“, lauten die ersten, von Mutlu gesprochenen Worte dieses aufrüttelnden, aber auch warmherzigen Films. Der ist zuvorderst das eindrucksvolle Porträt einer jungen Frau, die guten Grund hätte, den Mut zu verlieren und doch weitermacht. Wenn man alte Aufnahmen von Mutlu als kraftvolle Sängerin sieht und sie einen Schnitt später in der Gegenwart zur Gesangsstunde begleitet, wo sie nun wie ein Kind selbst um einfache Töne ringen muss, dann nimmt einen das mit – weil hier frauenfeindliche Gewalt mit ihren furchtbaren Folgen plötzlich sehr plastisch wird, wo sie sonst zu oft nur eine Statistik bleibt. Unmittelbar lebt und leidet man mit dieser Kämpferin mit, die auf der Social-Media-Plattform TikTok zu Millionen Menschen über ihr Schicksal spricht und von diesen „Eiserne Frau“ genannt wird – weil in ihrem Kopf noch die Kugel vom Attentat steckt. Die zum Kopf von Protesten gegen ein zahnloses Rechtssystem wird und schließlich im Andenken an ihre Schwester einen zornigen Song gegen Femizide und Patriarchat aufnimmt.
Darüber hinaus ist der Film aber auch das Porträt einer ganzen Familie, deren Leben ebenfalls von der Gewalt erschüttert wurde. Da ist die Mutter Hanim, die sich nach dem doppelten Schicksalsschlag weinend als „lebende Tote“ beschreibt. Der Vater, den das Schicksal seiner beiden Mädchen zu einem gebrochenen Mann gemacht hat, der nicht mehr arbeiten kann. Der friedvolle Bruder Hakan, den das Geschehene sichtlich schockiert. Die Schwester Songül, die Mutlu am Krankenbett wieder und wieder ein altes Wiegenlied vorgesungen hat und heute eine Wut auf Männer insgesamt entwickelt hat. Trotz des großen Schmerzes gibt es einem aber Hoffnung, wie dieser Familienverbund sich weiter gegenseitig stützt, Mut macht, für Gerechtigkeit eintritt.
Ein berührendes Zeitzeugnis voller poetischer Kraft
All dem geben die Regisseure mit ruhiger Kameraführung und langsamer Montage viel Raum, zeigen zwischendurch meditative Bergpanoramen, dazu erklingt folkloristische kurdische Musik, die die Familie in zahlreichen Szenen auch selbst mit sehnsüchtiger Schwermut singt und spielt, als könnte sie schützen, heilen. Spätestens in einigen fast traumartigen Zeitlupen-Sequenzen entwickelt das eine kontemplative, poetische Kraft.
Dem familiären Schutzraum stellen die Filmemacher eine patriarchale Gesellschaft gegenüber, die für Frauen schnell feindlich sein kann: Subtil sind die Anekdoten von arrangierten Ehen und zur Dominanz erzogenen Männern in den Film eingebettet, läuft im Fernsehen ein Bericht über einen Femizid in der Nachbarschaft, feuert ein Mann bei einer Hochzeit jubelnd eine Waffe ab; jederzeit könnte er sie auch auf eine Frau richten. Leichte Kost ist das nicht. Aber ein wichtiges Zeitzeugnis, das berührt.
Vier von fünf Sternen.