Essen. Im Film „Boom“ treffen ein Improvisations-Konzept, eine Künstliche Intelligenz und die 90er-Jahre aufeinander – mal gut, mal bemüht.
Der 21. November 1997 hat sich eingebrannt in die deutsche Popkultur-Geschichte: „Wenn wir Freunde wären, würd‘st du so’n Scheiß überhaupt nicht machen. Du machst uns alles kaputt!“, ruft damals Lee, eine der drei Sängerinnen von Tic Tac Toe, ihrer Kollegin Ricky unter Tränen zu. Eigentlich soll die Band nach medialen Enthüllungen bei einer Pressekonferenz Einigkeit demonstrieren, zerstreitet sich aber auf offener Bühne heftig – Deutschlands damals größte Girlgroup, bekannt für emotionalen Pop-Rap mit frecher Schnauze, zerbricht live vor den Fernsehkameras.
Den musikhistorischen Eklat hat sich ein junges Filmemacher-Team um das Berliner Digitalstudio Drive Beta als Inspiration für eine fiktionale Geschichte mit deutlichen Parallelen genommen: Boom ist Deutschlands erfolgreichste Mädchenband. In einer Stunde soll das Trio bei einer Pressekonferenz die „Boom-Bubble“ vorstellen, eine sprachgesteuerte Box mit künstlicher Intelligenz, die als Merchandise-Artikel der Band verkauft werden soll. Weil Managerin Alex (Collien Ulmen-Fernandes) mit einer Lebensmittelvergiftung darnieder liegt, muss die schüchterne Assistentin Paule (Alicia von Rittberg) die Bandmitglieder auf den Termin vorbereiten. Kein einfacher Job, denn zwischen der explosiv-großmäuligen Sue (Via Jikeli), Songwriterin Izzy (Sira-Anna Faal) und der von Ängsten geplagten Leadsängerin Peggy (Lea Drinda) gibt es Spannungen. Als die Band das Gespräch mit der Boom-Bubble ausprobiert und sich herausstellt, dass diese sämtliche Geheimnisse der Bandmitglieder kennt, eskaliert die Situation bis aufs Blut.
Lebensechte Improvisation
„Boom“ (ab dem 7. Februar in der ARD Mediathek und am 11. Februar in der Nacht zu Sonntag um 0.30 Uhr im MDR Fernsehen) ist zunächst mal eine interessante Versuchsanordnung: Nach eigenen Angaben entwickelte das Studio für den knapp einstündigen Film tatsächlich eine Sprachassistenten-Software, die das Team mit Informationen zu den Filmfiguren fütterte. Die Schauspielerinnen bekamen die Künstliche Intelligenz dann in Form der Boom-Bubble als einen unzuverlässigen Spielpartner vorgesetzt, von dem niemand am Set wusste, wie er genau reagieren würde. Das sorgt zusammen mit den komplett improvisierten Dialogen dafür, dass sich „Boom“ spontaner und lebensechter anfühlt als strenger geplante TV-Produktionen. Trotzdem bleibt die Erzählung stringent.
Ebenfalls gut gelungen sind Kostüme, Make-up und Kulissen: Ganze Szenen sind in pastelliges Licht getaucht, der Film transportiert die quietschige Girlgroup-Ästhetik der späten 90er mit knallbuntem Lidschatten, Jäckchen mit Fellkragen und Schnecken-Dutts ins Zeitalter von Smartphones und E-Zigaretten. Dass mit Collien Ulmen-Fernandes und Gülcan Kamps gleich zwei ehemalige VIVA-Moderatorinnen einen Gastauftritt haben, sorgt für zusätzliches Déjà-vu-Gefühl. Auch die Boom-Bubble ist als Mischung aus japanischem Manga-Roboter, sarkastischer Süßigkeit und HAL 9000, der Horror-KI aus Stanley Kubricks „2001“, charmant in Szene gesetzt.
„Boom“: Durch die Vierte Wand
Bei der Wahl der filmischen Mittel dagegen überziehen die Macherinnen und Macher ein bisschen: In der Badewanne sitzend, durchbricht Rapper Eko Fresh als prollig-ironischer Conférencier die Vierte Wand und erklärt dem Publikum nicht nur die KI-Idee des Films, sondern später auch für „all die kleinen Hosenscheißer, die nach dem Millennium geboren sind“, wer eigentlich Tic Tac Toe waren. Etwas weniger Anbiederung an jüngere Generationen wäre angebracht gewesen.
Hinzu kommen wie in Guy Ritchies Heist-Movies animierte Standbilder mit den Namen neu eingeführter Personen. Eine Kuchenschlacht in unnötiger Zeitlupe. Bild-in-Bild-Szenen paralleler Ereignisse und eine eingeblendete (und danach quasi nicht mehr genutzte) Uhr wie beim längst abgehakten Serien-Hit „24“. Bedeutungsschwangere Texttafeln zu den einzelnen Kapiteln. Personalisierte Kameraeinstellungen aus der Sicht der KI. Eingeblendete Smartphone-Ansichten. Kurz: etwas wahllos alles Mögliche, von dem Filmemacher mutmaßlich glauben, es einem jungen Publikum bieten zu müssen. Hier hätte etwas Reduktion „Boom“ gutgetan. Das gilt so auch für den von Jahrtausendwende-Songs geprägten Soundtrack, der etwas aufdringlich und überpräsent ständig Tempo machen und Stimmungen forcieren will.
Zu unentschlossen in der Form
Letztlich krankt „Boom“ aber am meisten daran, dass er alles gleichzeitig sein will. Die Selbstbeschreibung als „Sci-Fi Dramedy“ drückt das Dilemma schon aus: Für ein Drama ist der Film zu quirlig und skurril, für eine Komödie steckt in ihm zu viel pädagogisches Lehrstück über die dystopischen Gefahren von Abhör-KI großer Tech-Konzerne, für eine Persiflage sind Musikgeschäft, Charaktere und Begebenheiten nicht deutlich genug überzeichnet.
Das Finale lehnt sich dann nicht nur an die Quentin-Tarantino-Episode aus „Four Rooms“ (1995) an, sondern imitiert ohne Not auch noch das legendäre Intro von dessen Klassiker „Reservoir Dogs“ (1992). Das erweckt bei aller Freude am Zitat den Eindruck, als hätten die Macherinnen und Macher nicht voll auf die Kraft ihrer eigenen Ideen vertraut.
Drei von fünf Sternen