Essen. Die ARD-Dokumentation „Willy – Verrat am Kanzler“ rekonstruiert die größte Spionageaffäre der Bundesrepublik.

Am frühen Morgen des 24. April 1974, auf den Tag genau vor 50 Jahren, trat Günter Guillaume im Bademantel vor die Haustür und stellte sich widerstandslos der Polizei: Er sei ein Agent des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), gestand er sofort. Und richtete mit dem Satz mehr Schaden an als während seiner gesamten Dienstzeit als Referent im Kanzleramt. In der Folge trat Willy Brandt als Bundeskanzler zurück, und die Republik wurde eine andere…

Die vierteilige Doku-Serie „Willy – Verrat am Kanzler“, ab dem 24. April in der ARD-Mediathek zu sehen, rekonstruiert die größte Spionageaffäre der alten Bundesrepublik – vor allem für ein junges Publikum. Temporeich und aus mehreren Perspektiven erzählt, präsentieren Jan Peter und Sandra Naumann einen echten Politthriller, der geschickt Zeitebenen verknüpft, und zu Archivbildern immer wieder Lazlo x Céline den Kernsatz singen lässt: „Mit den besten falschen Freunden brauchst du keine Feinde“.

„Willy – Verrat am Kanzler“ rekonstruiert die folgenschwerste Spionageaffäre der Bundesrepublik und erzählt sie zum ersten Mal aus Frauensicht. Auch Journalistin Heli Ihlefeld erinnert sich.
„Willy – Verrat am Kanzler“ rekonstruiert die folgenschwerste Spionageaffäre der Bundesrepublik und erzählt sie zum ersten Mal aus Frauensicht. Auch Journalistin Heli Ihlefeld erinnert sich. © rbb/DOKFILM | Jürgen Rehberg

Willy Brandt: Visionär und Hoffnungsträger

Dass die Doku nur Frauen vor die Kamera holt, die die Ereignisse aus heutiger Kenntnis kommentieren – wie die bekannte Podcasterin Yasmine M’Barek oder die Historikerin und Stasi-Kennerin Daniela Münkel – ist eher unerheblich. Die Auswahl soll unterschwellig wohl nur das Image des als charismatisch bekannten SPD-Politikers verstärken:

Willy Brandt

Konrad Adenauer (*5. Januar 1876, † 19. April 1976) war der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er bekleidete das Amt von 1949 bis 1963, galt als Vater des Wiederaufbaus nach dem Krieg. Von 1951 bis 1955 war er zudem Außenminister und ließ in dieser Funktion vor allem die Beziehungen zu Frankreich und den USA wieder aufleben. Adenauer war Mitbegründer der CDU und ab 1950 für 16 Jahre Parteichef.
Konrad Adenauer (*5. Januar 1876, † 19. April 1976) war der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er bekleidete das Amt von 1949 bis 1963, galt als Vater des Wiederaufbaus nach dem Krieg. Von 1951 bis 1955 war er zudem Außenminister und ließ in dieser Funktion vor allem die Beziehungen zu Frankreich und den USA wieder aufleben. Adenauer war Mitbegründer der CDU und ab 1950 für 16 Jahre Parteichef. © IMAGO
Ludwig Erhard (*4. Februar 1897, † 5. Mai 1977) war von 1963 bis 1966 Bundeskanzler. Zuvor hatte er 14 Jahre an der Spitze des Wirtschaftsministeriums gestanden und das Wirtschaftswunder maßgeblich mit angeschoben. Als Kanzler blieb er in vielen Fragen glücklos und trat schon nach etwas mehr als drei Jahren zurück. Auch den CDU-Vorsitz hatte er nur kurz inne: von März 1966 bis Mai 1967.
Ludwig Erhard (*4. Februar 1897, † 5. Mai 1977) war von 1963 bis 1966 Bundeskanzler. Zuvor hatte er 14 Jahre an der Spitze des Wirtschaftsministeriums gestanden und das Wirtschaftswunder maßgeblich mit angeschoben. Als Kanzler blieb er in vielen Fragen glücklos und trat schon nach etwas mehr als drei Jahren zurück. Auch den CDU-Vorsitz hatte er nur kurz inne: von März 1966 bis Mai 1967. © IMAGO
Kurt Georg Kiesinger (*6. April 1904, † 9. März 1988) wurde 1966 nach acht Jahren als baden-württembergischer Ministerpräsident ins Kanzleramt gewählt. Er war der erste Kanzler, der mit einer Großen Koalition regierte. Seine Amtszeit war die kürzeste aller bisherigen Kanzler. Bei der Bundestagswahl 1969 blieb seine CDU zwar stärkste Kraft, musste die Regierung aber an eine sozialliberale Koalition abtreten. Kiesinger ging die FDP nach deren Absage an die CDU hart an und wurde dafür harsch kritisiert. Auch seine Vergangenheit als NSDAP-Mitglied wurde immer wieder kritisch beäugt.
Kurt Georg Kiesinger (*6. April 1904, † 9. März 1988) wurde 1966 nach acht Jahren als baden-württembergischer Ministerpräsident ins Kanzleramt gewählt. Er war der erste Kanzler, der mit einer Großen Koalition regierte. Seine Amtszeit war die kürzeste aller bisherigen Kanzler. Bei der Bundestagswahl 1969 blieb seine CDU zwar stärkste Kraft, musste die Regierung aber an eine sozialliberale Koalition abtreten. Kiesinger ging die FDP nach deren Absage an die CDU hart an und wurde dafür harsch kritisiert. Auch seine Vergangenheit als NSDAP-Mitglied wurde immer wieder kritisch beäugt. © IMAGO
Willy Brandt (*18. Dezember 1913, † 8. Oktober 1992) war der erste Bundeskanzler aus den Reihen der SPD, deren Vorsitzender er von 1964 bis 1987 war. Im Kabinett Kiesinger war er zuvor als Außenminister und Vizekanzler tätig, bis 1957 war er Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen. In seiner Zeit als Kanzler von 1969 bis 1974 sorgte Brandt vor allem für eine Annäherung an die Staaten des damaligen Ostblocks – eine erste Entspannung in Zeiten des Kalten Kriegs. Weltberühmt wurde sein „Kniefall von Warschau“ im Dezember 1970, mit dem er in der polnischen Hauptstadt um Vergebung für die NS-Verbrechen bat. Für seine Entspannungspolitik erhielt der Brandt 1971 den Friedensnobelpreis. Wegen der Affäre um den Kanzleramtsspion Günter Guillaume trat er im Mai 1974 zurück.
Willy Brandt (*18. Dezember 1913, † 8. Oktober 1992) war der erste Bundeskanzler aus den Reihen der SPD, deren Vorsitzender er von 1964 bis 1987 war. Im Kabinett Kiesinger war er zuvor als Außenminister und Vizekanzler tätig, bis 1957 war er Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen. In seiner Zeit als Kanzler von 1969 bis 1974 sorgte Brandt vor allem für eine Annäherung an die Staaten des damaligen Ostblocks – eine erste Entspannung in Zeiten des Kalten Kriegs. Weltberühmt wurde sein „Kniefall von Warschau“ im Dezember 1970, mit dem er in der polnischen Hauptstadt um Vergebung für die NS-Verbrechen bat. Für seine Entspannungspolitik erhielt der Brandt 1971 den Friedensnobelpreis. Wegen der Affäre um den Kanzleramtsspion Günter Guillaume trat er im Mai 1974 zurück. © IMAGO
Helmut Schmidt (*23. Dezember 1918, †10. November 2015) übernahm ab 1974 für acht Jahre den Chefposten im Kanzleramt. Zuvor war der Mann mit der Zigarette von 1969 bis 1972 Verteidigungsminister, danach für zwei Jahre Finanzminister. In seine Amtszeit fielen einige wirtschaftliche Krisen, denen er unter anderem mit der Gründung des „Weltwirtschaftsgipfels“ begegnete. Im Kampf gegen die RAF-Terroristen setzte der SPD-Politiker ab 1975 auf eine unnachgiebige Linie, die ihm vor allem Kritik der Opfer-Familien einbrachte. Sein in Schmidts eigener Partei hoch umstrittenes Engagement für den „Nato-Doppelbeschluss“, der die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland als Gegengewicht zur sowjetischen Nuklearmacht vorsah, ließ die sozialliberale Koalition schließlich zerbrechen.
Helmut Schmidt (*23. Dezember 1918, †10. November 2015) übernahm ab 1974 für acht Jahre den Chefposten im Kanzleramt. Zuvor war der Mann mit der Zigarette von 1969 bis 1972 Verteidigungsminister, danach für zwei Jahre Finanzminister. In seine Amtszeit fielen einige wirtschaftliche Krisen, denen er unter anderem mit der Gründung des „Weltwirtschaftsgipfels“ begegnete. Im Kampf gegen die RAF-Terroristen setzte der SPD-Politiker ab 1975 auf eine unnachgiebige Linie, die ihm vor allem Kritik der Opfer-Familien einbrachte. Sein in Schmidts eigener Partei hoch umstrittenes Engagement für den „Nato-Doppelbeschluss“, der die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland als Gegengewicht zur sowjetischen Nuklearmacht vorsah, ließ die sozialliberale Koalition schließlich zerbrechen. © IMAGO
Helmut Kohl (*3. April 1930) absolvierte die bislang längste Amtsperiode als Bundeskanzler: von 1982 bis 1998. Zuvor, von 1969 bis 1976, hatte der CDU-Politiker als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz regiert. In den Siebzigerjahren war Kohl mitverantwortlich für einige Kursänderungen in der CDU, deren Vorsitzender er von 1973 bis 1998 war. In seine Kanzlerschaft fiel die deutsche Wiedervereinigung, er gilt bis heute als „Kanzler der Einheit“. In der Kritik stand er am Ende seiner politischen Laufbahn wegen der CDU-Spendenaffäre, die ihn letztlich auch den Ehrenvorsitz seiner Partei kostete.
Helmut Kohl (*3. April 1930) absolvierte die bislang längste Amtsperiode als Bundeskanzler: von 1982 bis 1998. Zuvor, von 1969 bis 1976, hatte der CDU-Politiker als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz regiert. In den Siebzigerjahren war Kohl mitverantwortlich für einige Kursänderungen in der CDU, deren Vorsitzender er von 1973 bis 1998 war. In seine Kanzlerschaft fiel die deutsche Wiedervereinigung, er gilt bis heute als „Kanzler der Einheit“. In der Kritik stand er am Ende seiner politischen Laufbahn wegen der CDU-Spendenaffäre, die ihn letztlich auch den Ehrenvorsitz seiner Partei kostete. © IMAGO
Gerhard Schröder (*7. April 1944) wurde 1998 nach acht Jahren als niedersächsischer Ministerpräsident zum Bundeskanzler gewählt. Der Sozialdemokrat blieb bis 2005 im Amt und an der Spitze der ersten rot-grünen Bundesregierung. Seine Regierung schickte erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten in einen bewaffneten Konflikt – zur Befriedung des Kosovo. Seine zweite Amtszeit „verdiente“ sich Schröder vor allem mit dem Krisenmanagement beim Elbe-Hochwasser 2002. Aus seiner Kanzlerschaft ging die Agenda 2010 hervor, aus der vor allem die „Hartz-Reformen“ bekannt sind. Die Agenda war seiner Zeit so umstritten und brachte ihm so viel Widerstände ein, dass er für 2005 eine vorgezogene Bundestagswahl ansetzte, die Rot-Grün verlor.
Gerhard Schröder (*7. April 1944) wurde 1998 nach acht Jahren als niedersächsischer Ministerpräsident zum Bundeskanzler gewählt. Der Sozialdemokrat blieb bis 2005 im Amt und an der Spitze der ersten rot-grünen Bundesregierung. Seine Regierung schickte erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten in einen bewaffneten Konflikt – zur Befriedung des Kosovo. Seine zweite Amtszeit „verdiente“ sich Schröder vor allem mit dem Krisenmanagement beim Elbe-Hochwasser 2002. Aus seiner Kanzlerschaft ging die Agenda 2010 hervor, aus der vor allem die „Hartz-Reformen“ bekannt sind. Die Agenda war seiner Zeit so umstritten und brachte ihm so viel Widerstände ein, dass er für 2005 eine vorgezogene Bundestagswahl ansetzte, die Rot-Grün verlor. © IMAGO
Mit Angela Merkel (*17. Juli 1954) kam 2005 die erste Frau an die Spitze der Bundesregierung. Zunächst regierte die Christdemokratin von 2005 bis 2009 in einer Großen Koalition mit der SPD, nach der Wahl 2009 mit einem Bündnis aus CDU und FDP – und seit 2013 wieder mit der SPD. Zuvor hatte sie als Ministerin für Frauen und Jugend (1991 bis 1994) sowie als Umweltministerin (1994 bis 1998) gearbeitet. Seit April 2000 ist Merkel Bundesvorsitzende der CDU.
Mit Angela Merkel (*17. Juli 1954) kam 2005 die erste Frau an die Spitze der Bundesregierung. Zunächst regierte die Christdemokratin von 2005 bis 2009 in einer Großen Koalition mit der SPD, nach der Wahl 2009 mit einem Bündnis aus CDU und FDP – und seit 2013 wieder mit der SPD. Zuvor hatte sie als Ministerin für Frauen und Jugend (1991 bis 1994) sowie als Umweltministerin (1994 bis 1998) gearbeitet. Seit April 2000 ist Merkel Bundesvorsitzende der CDU. © REUTERS
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, Gallionsfigur der SPD, ein Visionär und Hoffnungsträger „für alle Deutschen“, hatte schon immer einen Schlag bei Frauen, wie das damals hieß. Bei linken Rebellinnen wie der West-Berliner Sängerin Katja Ebstein genauso wie bei strengen Katholikinnen, die bis dahin CDU gewählt hatten. Erst recht bei Heli Ihlefeld, Anfang der 1970er-Jahre eine der wenigen politischen Korrespondentinnen, die sich heute noch als Brandts Vertraute sieht.

Was aus der Distanz eines halben Jahrhunderts umso deutlicher wird, ist der politische Skandal hinter dem Presseskandal. In der Guillaume-Affäre ging es nicht nur um den Verrat von Staatsgeheimnissen, innenpolitisch war es mindestens ein doppelter Verrat – an Willy Brandt persönlich.

Bundeskanzler Willy Brandt (l.) und sein Referent Günter Guillaume (r.) auf Wahlkampfreise in Bamberg.
Bundeskanzler Willy Brandt (l.) und sein Referent Günter Guillaume (r.) auf Wahlkampfreise in Bamberg. © rbb/Friedrich-Ebert-Stiftung | J.H. Darchinger

„Willy – Verrat am Kanzler“: Früher Verdacht gegen Günter Guillaume

Denn trotz seiner exponierten Stellung hatte Guillaume nur mittelmäßige Informationen an den MfS weitergegeben. Da war seine Ehefrau Christel, zeitgleich Chefsekretärin im Bundesverteidigungsministerium, erheblich fleißiger: Ein von ihr gepackter Koffer mit brisantem NATO-Material gelangte nur deshalb nicht nach Ost-Berlin, weil eine Kurierin kalte Füße bekam und ihn im Rhein versenkte, bevor sie gestellt wurde.

Schon 1972 aber hatte der BND den Verdacht, dass Guillaume ein Maulwurf war. Nur wollte der westdeutsche Geheimdienst seine Quelle nicht preisgeben. Statt den Bundeskanzler aufzuklären, nutzte er ihn quasi als Lockvogel. Und ließ zu, dass Guillaume als Referent den Kanzler in einen langen Norwegen-Urlaub begleitete, ohne die Sicherheitsbeamten einzuweihen.

Auch Sängerin Katja Ebstein kommt zu Wort.
Auch Sängerin Katja Ebstein kommt zu Wort. © rbb/DOKFILM | Jürgen Rehberg

Innenminister Hans-Dietrich Genscher und das Versagen der Spionage-Abwehr

Zudem war nicht Willy Brandt verantwortlich, dass ein Ost-Spion mitten im Bonner Machtzentrum platziert werden konnte. Die mangelhafte Sicherheitsüberprüfung hatte der Bundesinnenminister zu verantworten – Hans-Dietrich Genscher (FDP) aber überstand den Untersuchungsausschuss ohne Blessuren. Stattdessen wurde ein Brief mit Namen mehrerer Geliebter lanciert, der Willy Brandt als „unzuverlässigen Staatsführer“ diskreditierte. Der fehlende Rückhalt in der eignen Partei zermürbte ihn, machte ihn müde. So trat er am 6. Mai 1974 zurück.

Vier von fünf Sternen.