Essen. Seit 50 Jahren bewertet das Grimme-Institut die Medienlandschaft. Warum die Chefin sich Reformen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk wünscht.
Das Grimme-Institut steht mit seinem Renommee nicht nur Pate für den gleichnamigen Preis, mit dem hochwertige Fernsehproduktionen prämiert werden, es ist auch eines der führenden Medienforschungseinrichtungen im Lande – und feiert seinen 50. Geburtstag. Grund genug für ein Gespräch mit Geschäftsführerin Frauke Gerlach. Es fragten Madeleine Hesse, Peter Toussaint und Stephan Hermsen.
Ältere Menschen, die Fernbedienungen nutzen, haben öffentlich-rechtlichen Sender meist ordentlich auf den vorderen Plätzen abgespeichert. Die junge Generation streamt überwiegend. Ist für sie das öffentlich-rechtliche Fernsehen noch relevant?
Frauke Gerlach: Im Bereich der Information ist die Nachfrage und die Nutzung der Öffentlich-Rechtlichen auch bei Jüngeren groß. Das hat sich in der Corona-Pandemie gezeigt, zu Beginn des Ukraine-Krieges und bei anderen Ereignissen. In deren Mediatheken gibt es auch Miniserien von hoher Qualität, die mit konsumiert werden. Bei vielen jungen Nutzern ist da womöglich nicht das Bewusstsein: „Oh, ich schaue öffentlich-rechtliches Fernsehen“. Aber aus Sicht des Grimme-Instituts sind das Fernseh-Werke.
Aber der Rechtfertigungsdruck für die Rundfunkgebühren steigt.
Der gebührenfinanzierte Rundfunk muss die Begründung für die Beitragsfinanzierung immer wieder neu liefern. Es gab über viele Jahrzehnte die Sicherheit der Finanzierung und das übersichtliche duale System. Das ist heute und bei der jüngeren Generation nicht mehr so und das steigert den Rechtfertigungsdruck.
Die Frage ist – auch bei uns -- wie wir junge Menschen in die Häuser holen und Innovatives machen lassen. Denn sie wissen am besten, wie ihre Zielgruppe tickt, wie sie Informationen aufbereitet haben wollen und welche unterhaltenden Angebote für sie relevant sind. Diese junge Generation im ÖRR muss aber zugleich die Werte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vertreten.
Was sind die Top 3 der Werte, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen ausmachen?
Im Grunde sind sie identisch mit der Grimme-DNA. Wir sind unabhängig, werteorientiert und wissensbasiert. Diese Werte sind bilden quasi das Fundament des Grimme-Instituts. Die Erkenntnis aus der NS-Zeit, wie sich Massenkommunikationsmittel zur Gleichschaltung der Menschen nutzen lassen, war ein zentraler Gründungsimpuls für das Grimme-Institut. Es sollte einen Beitrag zur Aufklärung und Bildung leisten, damit die Menschen antidemokratischen Populisten nicht mehr auf den Leim gehen. Adolf Grimme, der Namensgeber und Bernd Donnepp, der Gründer des Grimme-Instituts, standen für diese Werte, für die das Institut auch heute noch steht.
Was ist damit, wenn Tino Chrupalla von der AfD im ZDF-Sommerinterview sitzt? Ist das noch Ihr öffentlich-rechtliches Fernsehen?
Auch das gehört zu unserem Grundgesetz, dass es die Chancengleichheit für alle demokratisch gewählten Parteien geben muss.
Zugang zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen auch für die Feinde der Verfassung?
Für mich ist es selbstverständlich, dass auch Vertreterinnen und Vertreter der AfD im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auftreten. Wer eingeladen wird und was für Interviews geführt werden, ist die Hoheit der Redakteurinnen und Redakteure. Ich sehe, dass es da eine Lernkurve gegeben hat. Ich muss mich gut vorbereiten, in der Lage sein, diese Leute auch zu stellen. Ob da so ein Sommerinterview das richtige Format ist, ist vielleicht zweifelhaft.
Wir nehmen wahr, dass auch der ÖRR viel seichte Unterhaltung liefert. Braucht es wirklich ZDF und ARD – und dann noch mit so vielen Landesrundfunkanstalten?
Eine Zusammenlegung von ARD und ZDF hielte ich schlichtweg für falsch. Was die dritten Programme angeht, so ist es deren spezifische Aufgabe, das Regionale und Lokale abzubilden. Das sollten sie verstärkt tun. Zudem wünsche ich mir, dass mehr von den Schätzen aus der Mediathek im linearen Fernsehen zu attraktiven Zeiten programmiert wird. Denn das ist doch der Reiz: Dass ich dort von Sendungen auch mal überrascht werde.
Sind die teuren Rechte in den durchkommerzialisierten Sportangeboten noch im ÖRR zu rechtfertigen?
Ich sehe keine Grundlage, dass man sich an diesem Bieterwettbewerb weiter beteiligt. Es wurde immer argumentiert: Wir brauchen die Akzeptanz, und Fußball verbindet. Aber das ist etwas, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich perspektivisch nicht mehr leisten kann und nicht mehr leisten wird. Ich wünsche mir gute, hochwertige Unterhaltung. Das sind beispielsweise die, die einen Grimme-Preis bekommen haben, aber nicht nur die. Wichtig sind auch Satire und Talkshows, allerdings sollte es nicht Überhand nehmen, dass jede politische Frage satirisch oder im Talk behandelt wird.
Die Vermischung von politischer Aufklärung mit Satire ist das eine Problem. Das andere: Die Neutralität der Journalistinnen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wird insbesondere von den Rechten immer wieder bestritten. Ist das ein Problem?
Ich halte nichts davon, dass man Journalistinnen und Journalisten untersagt, parteilich orientiert zu sein. Was man erwarten darf und sichergestellt werden muss: Dass man von der eigenen Haltung, von der eigenen politischen Orientierung abstrahieren kann. Das macht guten Journalismus aus. Aber klar ist: Die Werte des Grundgesetzes sind nicht neutral. Wir haben eine liberale demokratische Grundordnung, die sich einem bestimmten Gesellschaftsbild verschrieben hat.
Als dieses System aufgebaut wurde nach dem Vorbild der BBC mit Adolph Grimme als Gründungsintendanten des NWDR, lautete der Auftrag: Ihr müsst die Leute zu mündigen Bürgern erziehen. Das ist der Grundauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die Dynamiken im Internet haben jetzt auch das öffentlich-rechtliche System angesteckt, auch wenn schon mit der Einführung der Privatsender vor 40 Jahren der Druck aufkam, auf Einschaltquoten zu achten. Der Dynamik der Aufmerksamkeitsökonomie können sich ja auch die Zeitungen nicht entziehen.
Umso wichtiger wäre eine aufgeklärte Öffentlichkeit. Wie muss Medienkunde heute aussehen? Sollte es die als Schulfach geben?
Es ist wie immer in Deutschland: Es gibt unglaublich viel zum Thema Medienbildung, das ist aber ziemlich unübersichtlich. Medienbildung ist in unserem föderalen System wesentlich eine Länderaufgabe. Schule ist besonders gefragt, weil sie die Institution ist, die wir alle durchlaufen. Von einem Schulfach Medienkunde halte ich nichts, Quellenkritik und Medieneinsatz müssen in fast jedem Unterrichtsfach eine Rolle spielen.
Sind Sie da nicht weit hinter der Musik, wenn man schaut, was vor allem auf jüngere Menschen einprasselt, wie sie sich in Filterblasen einkapseln und Dinge auf ihrem Smartphone für wahr halten?
Schulen können nicht alles machen, alle tragen einen Teil der Verantwortung Da sind wir auch bei den Eltern. Mit dem Grimme Online Award zeigen wir, wie hochwertige Onlineangebote gestaltet werden sollten. Dies ist ein Baustein. Aber nochmals: Einfache Lösungen gibt es leider hierbei nicht
Aber es reicht nicht, zu sagen: RTL2 bekommt keinen Grimme-Preis.
Ich bin den Privatsendern sehr dankbar für die Qualitätsoffensive, die die gestartet haben. Das private Fernsehen ist deutlich besser geworden. Ich bin eine große Verfechterin von Unterhaltungssendungen, auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Sie müssen aber breit gefächert und vielfältig sein, damit ich die Menschen abhole.
Wäre das Fernsehen heute schlechter, wenn es nicht seit 50 Jahren das Grimme-Institut gäbe?
Ich würde mal ganz selbstbewusst sagen: Es schafft Aufmerksamkeit, der Grimme-Preis und der Grimme Online Award sind Qualitätssiegel. Die Grimme Debatten über Qualität liefern anerkannte Maßstäbe. Früher hieß es manchmal: Das Schlimmste ist ein Grimme-Preis, dann wird das Ding ein Flop. Die VOX-Serie „Club der roten Bänder“ ist ein Gegenbeispiel. Wenn sich jemand um Fördergelder bemüht, ist der Preis durchaus etwas wert. Und ein Grimme-Preis macht glücklich, dass erleben wir jedes Jahr, wenn wir die Preisträger anrufen, fühlen wir uns wie der Weihnachtsmann – oder die Weihnachtsfrau.
Frauke Gerlach, Adolph Grimme und der Preis
Frauke Gerlach, 59, ist seit 2014 Direktorin des Grimme-Instituts. Zuvor war sie u.a. Justiziarin der NRW-Landtagsfraktion der Grünen und Vorsitzende der Kommission der Landesanstalt für Medien.
Das Grimme-Institut, 1973 in Marl gegründet, analysiert und prämiert Medienangebote in Funk, Fernsehen und Netz u.a. seit 1964 mit dem „Grimme Preis“ und dem „Grimme-Online-Award“.
Am 10. September feiert das Institut von 10 bis 18 Uhr mit einem Tag der offenen Tür das Jubiläum. Alle Infos dazu unter: grimme-institut.de