Berlin. Mit seinem Gerichtsdrama „Juror #2“ wandelt Clint Eastwood den Klassiker „Die zwölf Geschworenen“ ab: Der Täter sitzt hier in der Jury.
So ein netter Mann! Jung, jovial, sympathisch. Ein liebender Familienmensch, der als Journalist eines Lifestyle-Magazins ein gutes Einkommen hat, sich rührend um seine schwangere Frau kümmert und das künftige Kinderzimmer selbst zimmert. So würden wir ihn uns gerne vorstellen, den Inbegriff des guten Amerikaners – gerade in Zeiten, da uns bald wieder täglich das glatte Gegenteil in den Nachrichten verfolgen wird.
„Juror #2“: Ein Gewissenskonflikt, der sich zum moralischen Dilemma weitet
Dass dieser junge Mann namens Justin Kemp (Nicholas Hoult) nicht begeistert ist, als er in eine Geschworenenjury berufen wird, ist verständlich. Er möchte bei der Geburt des Babys dabei sein, zumal es eine Risikoschwangerschaft ist. Aber er wird nicht später zu Hause sein, als wenn er von der Arbeit käme, wird er vertröstet. Und also kommt er seinen staatsbürgerlichen Pflichten auch pflichtbewusst nach.
Allerdings muss er feststellen, dass der Mordprozess mehr mit ihm zu tun hat, als ihm lieb ist. Es geht um einen Mann, der seine Frau überfahren haben soll. Nachdem er sich immer wieder öffentlich mit ihr gestritten hat. Dieser Mann (Gabriel Basso) ist das glatte Gegenteil von Justin Kemp, das glatte Gegenteil von Schwiegermuttis Liebling: tätowiert, ungepflegt, jähzornig, vorbestraft. Aber dem Juror Nummer Zwei wird während des Prozesses heiß und kalt.
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Denn Kemp – der, wie man erfährt, auch nicht ganz ohne Schatten ist, eine frühere Alkoholsucht nach einem Schicksalsschlag aber überwunden hat – war damals selbst in der Bar, in dem sich das Paar zuletzt gestritten hat. Und auf der Heimfahrt danach ist ihm in regnerischer Nacht etwas vors Auto gelaufen, von dem er dachte, es sei ein Reh gewesen. Er hat noch angehalten, aber nichts entdecken können. Das alles ist lange her und war schon vergessen. Aber nun wird dem jungen Mann klar: Er war es, der die Frau überfahren hat.
Einen Unschuldigen hinter Gitter bringen? Oder sich selbst belasten?
Ein Gewissenskonflikt, der sich zum moralischen Dilemma weitet. Alle sind von der Schuld des Verdächtigen überzeugt. Nur er weiß es besser. Und plädiert als Einziger auf nicht schuldig. Die anderen Jurymitglieder sind genervt, sie alle wollen ihre Staatspflicht so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Aber Justin Kemp will keinen Unschuldigen hinter Gitter bringen. Kann allerdings auch seine Schuld nicht eingestehen. Weil er, auch wenn es ein Unfall war, wegen unterlassener Hilfeleistung mit einer langjährigen Strafe rechnen müsste. Was also tun? Die Juroren umstimmen, um einen Justizirrtum zu verhindern? Auch wenn das bedeuten würde, dass der Fall neu aufgerollt wird? Und Kemp selbst in den Fokus der Ermittlungen geraten könnte?
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Mit seinen mittlerweile 94 Jahren macht sich Altmeister Clint Eastwood mit „Juror #2“ an einen großen Filmklassiker, an „Die zwölf Geschworenen“ von Sidney Lumet, ein Werk, das auch schon 68 Jahre alt ist. Dort spielte Henry Fonda den aufrechten Amerikaner, der als Einziger nicht von der Schuld eines Angeklagten überzeugt war und nach und nach alle anderen Mitgeschworenen von einem vorschnellen Urteil abbrachte.
Den Gerichtsklassiker „Die zwölf Geschworenen“ um eine Nuance weiter gedacht
Ein bitteres Justizdrama, das von Ressentiments, Vorurteilen und den Anfälligkeiten und Ungerechtigkeiten des Geschworenensystems handelte – auch wenn am Ende hollywoodgerecht doch das Gute siegte. Eastwood variiert diesen Klassiker nun, denkt ihn aber um eine entscheidende Nuance weiter. Der Angeklagte ist nicht nur unschuldig, der wahre Täter sitzt selbst in der Jury und hält Gericht über ihn. Die Umkehrung aller Werte.
Erzählt wird das Ganze als Courtroom-Drama, als klassischer Gerichtsfilm. Mit einem redlichen, aber etwas blassen Verteidiger (Chris Messina), der den scheinbar erdrückenden Beweisen nicht viel entgegenzusetzen vermag. Mit einer taffen, ehrgeizigen Staatsanwältin (Toni Collette), die von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist, sich von einem Sieg im Prozess aber auch einen entscheidenden Vorteil für eine künftige Politkarriere erhofft. Und mit einer Jury, die, wie Kemp anfangs auch, so schnell wie möglich ein Urteil fällen und dann wieder in ihren Alltag zurückkehren will.
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Es gibt hier keine Regie- und Kameramätzchen. Alles ist ganz auf die Schauspieler konzentriert. Und deren Besetzung ist hübsch, hat Toni Collette doch vor über 20 Jahren, in „About a Boy“, noch eine überforderte Mutter gespielt und Nicholas Hoult ihren kleinen Sohn, der sich um sie kümmern musste, statt umgekehrt. Man muss den Film von 2002 nicht gesehen oder in Erinnerung haben (Hoult war damals erst zwölf), aber es verleiht dem Film zusätzliche Spannung, wenn sie sich nun im Gerichtssaal wiedertreffen und das Kräfteverhältnis ein anderes ist.
Grundsätzliche Fragen um Schuld und Gerechtigkeit
Clint Eastwood wiederum wollte seinen Job eigentlich schon an den Nagel hängen, „Cry Macho“, sein letzter Film, als Schauspieler wie als Regisseur, ist schon vier Jahre her. Nun aber meldet er sich erneut zu Wort. Möglicherweise zum allerletzten Mal. Und auch mit Mitte 90 hat er wieder mit der von ihm gewohnten und immer wieder bewunderten Lässigkeit und Unaufgeregtheit in Szene gesetzt. Und widmet sich einmal mehr den Ambivalenzen der menschlichen Natur.
Klug hält er sich in seiner 41. Regiearbeit an dem vorgegebenen, fiktiven und etwas konstruierten Fall des Drehbuchnovizen Jonathan A. Abrams. Und wie nebenbei werden ganz grundsätzliche moralisch-ethische und philosophische Fragen gestellt. Dabei werden das Geschworenengericht und Gerechtigkeit selbst zur Verhandlungssache. Und der Zuschauer sitzt quasi als Juror#13 mit dabei und muss nicht nur über Schuld und Vergeltung reflektieren, sondern auch ganz grundsätzlich über die Frage: Was ist ein guter Mensch? Und: Gibt es so was überhaupt?
Drama, USA 2024, 114 min., von Clint Eastwood, mit Nicholas Hoult, Toni Collette, Zoey Deutch, Kiefer Sutherland, J.K. Simmons, Chris Messina, Gabriel Basso