Oberhausen. 1974 erfanden die Ramones den Punkrock. Erinnerungen an einen Rausch in Düsseldorf und ein Konzert vor einem Reifenregal in Oberhausen.
Es geschah im Jahr 1974, dass sich vier New Yorker Twens zusammentaten, um dem Rock eine Frischzellenkur zu verpassen. Sie schätzten den Sound verzerrter Gitarren, nicht jedoch den überbordenden Bombast zeitgenössischer Rockstars wie Led Zeppelin. Stattdessen vermissten sie Frische und Eingängigkeit des Rock’n’Roll ihrer frühen Jugend. Da das Quartett zwar ambitioniert, aber musikalisch limitiert war, entstand etwas gänzlich Neues: Die Ramones hatten den Punkrock erfunden.
50 Jahre später gibt’s die Band schon lange nicht mehr. Das letzte Gründungsmitglied, Tommy Ramone, starb bereits vor zehn Jahren. Zahllose Fans auf der ganzen Welt haben die Ramones dagegen bis heute. Einer davon bin ich.
Mein Erstkontakt mit den vermeintlichen Brüdern aus New York fand 1987 statt – über das gerade erschienene Album „Halfway to Sanity“, das heute eher als Schwachstelle in der Ramones-Diskografie gilt. Objektiv mag dies stimmen, doch ich bin in diesem Fall befangen. Zu sehr ist die Platte mit dem beglückenden Gefühl der Fan-Werdung verbunden. Mit „It’s Alive“ kam mir gleich als nächstes dann auch ein Werk in die Finger, das musikalisch über jeden Zweifel erhaben ist.
Ramones: Lederjacken, Jeans und ausgelatschte Turnschuhe
Doch Fan der Ramones wurde niemand wegen der Musik allein. Ihr unwiderstehliches Identifikationsangebot an Jugendliche abseits des Mainstreams machte die Band nicht zuletzt mit ihrem Look. Weniger die Uniform aus Lederjacken, Jeans und ausgelatschten Turnschuhen selbst, als die Attitüde, mit der sie getragen wurde. Gleich mit dem Cover ihres ersten Albums etablierten die Ramones einen neuen Stil fern gängiger Mucker-Posen. Botschaft: Man kann scheiße aussehen und trotzdem cool sein. Was war das denn da, bitte schön, auf dem Kopf von Dee Dee und Johnny? Pottschnitte wie diese trug in den 70ern schon kaum jemand mehr. In den 80ern wirkten sie schlicht absurd. Und doch auch: faszinierend. Wer so etwas tragen konnte, war schlicht unantastbar.
Bereits ein knappes Jahr nach meiner Erweckung hatte ich die Gelegenheit, meine Helden in Fleisch und Blut zu erleben: Johnny, Dee Dee, Drummer Marky und den baumlangen Sänger Joey. Zusammen mit den Stranglers, den damals angesagten Godfathers sowie den heute vergessenen The Seers standen die Ramones am 13. Juni 1988 in der Düsseldorfer Philipshalle auf der Bühne. Uns interessierten natürlich nur die Ramones.
Das Konzert erlebe ich wie einen Rausch, in mehrfacher Hinsicht. Live sind die Ramones eine akustische Dampfwalze mit Turbo, legendär. In einer knappen Stunde spielt die Band 28 Songs – vom Opener „Durango 95“ bis „We’re A Happy Family“. Der Sound soll ziemlich grottig gewesen sein. Ich weiß es nicht mehr. Nur, dass ich am nächsten Tag Englisch-Leistung in der ersten Stunde habe und auch noch aufgerufen werde. Betäubt vom Kater und selig vom Erlebten bestehe ich die Prüfung irgendwie. Einen Ramones-Fan ficht das nicht an.
Im November 1989 spielen die Ramones im Music Circus Oberhausen
Wieder ein Jahr später kommen die Ramones sogar in meine Heimatstadt Oberhausen. Am 24. November 1989 spielen Joey, Johnny & Co. im Music Circus am Stadion Niederrhein, einer Großraumdisco im Zirkuszelt. Als Macher eines Fanzines kommen mein bester Freund und ich sogar an Fotopässe und können aus dem Bühnengraben fotografieren. Vom 36er-Film gelingt genau ein Bild. Mein Freund fängt beim Konzert aber gleich zwei der begehrten Plektren von Gitarrist Johnny, meinem Lieblings-Ramone. Eins schenkt er mir – samt dem Foto vom Konzert hängt es seitdem an meiner Wand.
Mit dem Konzerterlebnis in Düsseldorf kann der Oberhausener Auftritt jedoch nicht mithalten. Auf der Bühne fehlt der kurz zuvor ausgestiegene Bassist Dee Dee. Die Ramones ohne Dee Dee? Eigentlich unvorstellbar. Er wird durch den jungen C. J. ersetzt – der hat in Oberhausen noch kurze Haare. Geht gar nicht. Auch das 89er-Album „Brain Drain“ ist ziemlich mäßig. Bald finde ich offiziell nur noch die „frühen Ramones“ gut. Als die 80er Geschichte sind, entdecke ich Bands, die in jenem Geist und Sound musizieren. New Bomb Turks, Supercharger, Badtown Boys, Groovie Ghoulies und viele, viele mehr. Diese Bands kann man aus nächster Nähe in Clubs erleben. Mein Fokus verschiebt sich. Neue Platten der Ramones muss ich nicht haben, bei Konzerten passe ich – sie kommen ja eh regelmäßig auf Tour. Dennoch bleibe ich Ramones-Fan, ein Poster von ihnen begleitet mich durch jede Wohnung.
1996 löst sich die Band schließlich auf, das registriere ich noch recht ungerührt. 2001 stirbt Joey Ramone – tragisch, er ist erst 49 Jahre alt. Ein Jahr darauf erwischt es Dee Dee, Überdosis, und 2004 schließlich Johnny, Krebs. Meinen Lieblings-Ramone wollte ich eigentlich immer mal interviewen, nun war er tot. Was nicht mehr da ist, vermisst man. Mit jedem Jahr wächst seitdem mein Interesse an jener Band.
Die Rückkehr des Richie Ramone
Aber es gibt es ja noch drei Ramones, auch wenn sie keine Gründungsmitglieder sind: Drummer Marky, der 1978 einstieg, Dee-Dee-Ersatz C.J. und Richie, der von 1983 bis ‘87 am Schlagzeug saß. Letzterer (bürgerlich: Richard Reinhardt) tauchte nach seinem plötzlichen Ausstieg völlig ab. Erst in den 00er-Jahren hört man von ihm. Schließlich tritt er wieder als Richie Ramone auf, 2013 erscheint sein Solo-Album.
Richie trommelte zwar nur vier Jahre bei den Ramones, doch er schrieb sogar Songs, etwa den Band-Klassiker „Somebody put something in my drink“. Unter vielen Fans gilt er gar als bester Ramones-Drummer. 2016 kommt er auf seiner Solo-Tour erstmals wieder nach Deutschland – als ich davon erfahre, reift in mir ein Plan.
Mein bester Freund von damals ist es immer noch – und jetzt auch noch mein Nachbar. In unserer Garage haben bei Partys bereits Bands gespielt. Wieso nicht ein echter Ramone? Fragen kostet ja nichts, Richie tritt auch nicht gerade in Arenen auf. In Essen spielt er im kleinen Club Freakshow, am nächsten Tag irgendwo in Holland. Genial: Ein Zwischenstopp im Norden von Oberhausen liegt auf dem Weg, schnell werden wir uns handelseinig.
So kommt es, dass bei uns an einem grauen Novembersamstag ein Ramone aus Fleisch und Blut im Bandbus vorfährt, mit Lederjacke und Bier in der Hand. Vielleicht 50, 60 Freunde und Bekannte quetschen sich in die ausgeräumte Garage, und zur besten Mittagessenzeit dringen daraus jene „Hey Ho, Let’s Go“-Rufe, die stets jedes Ramones-Konzert begleitet haben.
Die Begeisterung und Aufregung jugendlicher Konzerterlebnisse, wie bei jenem 1988 in der Philipshalle, kann man im Alter schwerlich reproduzieren. Aber als Richie vor unserem mit Teppich abgehängten Winterreifenregal durch sein Set mit Ramones-Klassikern brettert – „Animal Boy“, „Blitzkrieg Bop“, „Judy Is A Punk“ und all die anderen – spüre ich doch eine leichte Gänsehaut. Erst spielt er Schlagzeug, dann wechselt er ans Mikro. Sogar ein „Gabba Gabba Hey“-Schild, wie es Joey immer schwenkte, haben wir ihm gebastelt.
Vor unserem Getränkeregal hat seine Band einen Merchandise-Stand aufgebaut. Klar: Richie quetscht sich nicht aus Liebe zur Musik allein wieder in den Tourbus. Nach dem Konzert erzählt er uns von seiner Freundschaft mit Joey, den er sehr vermisse, und stichelt gegen Marky Ramone, der vor und nach ihm bei den Ramones trommelte. Dann packen seine Musiker schon wieder ein, Richie muss weiter. Vielleicht zweieinhalb Stunden dauert seine Stippvisite bei uns in Oberhausen – ich erlebe sein Konzert wie einen Rausch. Am nächsten Tag kann ich ausschlafen.