Moers. Joanne Gläsel und Leonardo Lukanow glänzen in der Friedhofskapelle. Sie erinnern daran, dass wir alle ein bisschen Hippie sein sollten.
Am Schluss geht Maude im Dunkel über dem aufgelassenen Friedhof einem grellen Licht entgegen – ihrem tablettenvergifteten Ende, von dem sie einige Viertelstunden zuvor ja schon gesagt hatte, dass es auch ein Anfang sei. Und der kalt erwischte Harold? Lässt sein Entsetzen, seine Enttäuschung, seine trotzende Liebe auch ins Gehen fließen: unter einem regenbogenbunten Schirm verschwindet er dorthin, wo die große Straße wartet.
Das Publikum, das die beiden Liebenden gerade noch mit einem Regen aus weißen Nelken bedacht hat, steht auf den Portalstufen der alten Friedhofskapelle, in deren Innerem gerade gute anderthalb Stunden „Harold und Maude“ ein herz- und verstandwärmendes Lagerfeuer der Menschlichkeit aufflackern lassen.
„Harold And Maude“ läuft seit 49 Jahren in der Galerie Cinema in Essen-Rüttenscheid
Selbstverständlich könnte man sich den Kultfilm auch am nächsten Sonntag wieder um 16 Uhr im Wohnzimmerkino der „Galerie Cinema“ im Essener Wohlfühl-Stadtteil Rüttenscheid angucken, wo er seit nunmehr 49 Jahren läuft. Aber die Theaterfassung, die Constanze Hörlin da für das Moerser Schlosstheater in seiner Mini-Spielstätte der Kapelle entwickelt hat, entwickelt ihren eigenen Reiz. Was vor allem das Verdienst von Joanne Gläsel ist, die der fast 80-jährigen Maude eine bezaubernde Balance zwischen Alter und schrägem Hippie-Vögelchen verleihen kann, auf den Flügeln des anders Seins und anders Denkens. Sie verwandelt sich mit Masken und elektronisch erzeugtem Stimmen-Hall souverän in Harolds Mutter, Psychiater, drei Heiratsbewerberinnen und einen Generals-Onkel.
Leonardo Lukanow ist ein wunderbar verstörter 18-Jähriger, wie ihn Colin Higgins als Autor des Drehbuchs und Romans kaum besser hätte ausdenken können, ein Katalysator und Turbo zugleich für all die Trauma-Kompensationen der KZ-Überlebenden Maude. Die Musik – von Chopins Nocturne über zeitgemäße Sounds von Lou Reed über „Paint It Black“ von den Stones und Pink Floyds „Dark Side Of The Moon“ bis zu Glam-Rock und „Major Tom“ von Bowie – unterstreicht die Erinnerung an eine Zeit, in der es leichter war, auf vorbildliche Weise vogelwild zu denken und zu fühlen. Und die Komposterde auf dem Boden der Kapelle lässt das Publikum das ewige Werden und Vergehen unter den Schuhen spüren (Bühne und Kostüme: Katharina Grof).
Der Impuls dieses Stoffs, vorgegebene Denk- und Handlungsmuster zu sprengen, und sei es als liebende 18- und 80-Jährige, ist ja nicht weniger wichtig geworden, bloß weil die Konventionen heute andere Masken tragen. Daran live zu erinnern – wer oder was könnte das besser als Theater?
Großer Applaus!