Rees-Haldern. Mal wieder wie neugeboren: Das traditionsreiche Festival am Niederrhein bangte lange wegen knapper Ticket-Nachfrage. Aber es wurde doch voll – und toll.
Am Samstagabend gegen 23 Uhr geschieht Unglaubliches: Es gibt eine Zugabe. Gefühlt zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Dog Race aus England, allererster Auftritt auf dem Kontinent. Das Niederrheinzelt schwingt, dass die Zeltstangen, Stehlampen und Boxentürme wackeln. Der Jubel nimmt kein Ende. Und dann dürfen sie trotz der strengen Festivalregie noch ein Lied mehr spielen.
Etliche hundert Fans, die dichtgedrängt um die niedrige Bühne sprangen, tanzen und toben, ahnen es: Das war wieder einer jener Gold-Momente, für die das Haldern Pop Festival seine Medaillen verdient. Und dass sie ihren Kindern werden sagen können: „Dog Race? Hab ich schon gesehen, als sie noch nicht mal in ganz kleinen Clubs gespielt haben. In Haldern nämlich.“
Das ist das Kunststück, von dem die Festivalmacher nie wissen, wann es gelingt: Besondere Momente auf die Bühne und vor allem vors Publikum zu zaubern. Momente, komponiert aus der Stimmung des Augenblicks und deswegen unplanbar. Was, in unsicheren Zeiten, auch Haldern Pop unsicher macht: Menschen, gerade die Jungen, suchen Sicherheit, auch wenn es nur um ein Konzert geht.
Nach anfänglichen Sorgen strömten die Gäste
Bekannte Namen ziehen am besten, egal was es kostet. Taylor Swift und Adele, Wacken und AC/DC. Deswegen bangten die Macher noch Tage vorher, ob es gelingt. „Ich hatte schon die Nummern von Insolvenzverwaltern rausgesucht“, sagte ein sichtlich erleichterter Stefan Reichmann am Samstagabend. Er und die vielhundertköpfige Mannschaft der Festivalveranstaltergemeinschaft atmen auf: Die Menschen kamen, zwar kurzfristig, aber sie kamen. Die finale Bilanz fehlt noch, aber der Freitag war mit 7000 Gästen ausverkauft, die anderen Tage waren zumindest nah dran.
Aber was wirklich zählt, sind die Momente: Haldern hat, zum Beispiel, Roosmarijn, eine niederländische Violinistin und Liedermacherin, die mit dem Halderner Hausorchester, dem neunköpfigen Streicher- und Bläserensemble Stargaze, vor 30 Menschen im stickigen Tonstudio ihre Lieder auf eine Weise entwickeln kann, wie sie sie selbst auch noch nie gehört hat. Und vermutlich genauso Gänsehaut hat wie ihre Zuhörer.
Haldern hat, wieder im Niederrheinzelt, Porcelain ID, einen schmächtigen Jungen, der aus Ruanda stammt, in Belgien lebt und alles das, was sein Volk, sein Leben und ihn selbst schon in so jungen Jahren geprägt hat, in seine Lieder legt, zwischen Blues, Soul und Folk und Menschen mit Tränen in den Augen tanzen lässt. Man muss die Texte nicht begreifen, um seine Gefühle zu verstehen.
Haldern stellt eine neunköpfige Gruppe aus Kolumbien und Großbritannien auf die Bühne, Mestizo, die im Sonnenschein schon am frühen Donnerstag die Verhältnisse jenseits des Viervierteltaktes zum Tanzen bringen mit schier unglaublicher Energie. Haldern hat Nichtseattle und das gleich zweimal: Liedermacherinnenpop erst im kleinen Zelt und dann noch einmal auf der großen Bühne. Und hat auch Anna Ternheim, die zwischen Country, Folk und intelligentem Pop zeigt, das Schweden manchmal unweit von Nashville liegt.
Haldern hat Michael Wollny, der mit seinem Jazztrio zur besten Festivalzeit samstags um 20 Uhr seinen Auftritt mit Alban Bergs Zwölftonmusik beginnt. Aber dennoch hören viele hundert Menschen begeistert mitswingend zu. Ohne offene Ohren und offene Herzen kein Haldern. Klar, da sagt eine Zuhörerin „Hurz“. Und der Partner trocken: „Berg? War der nicht Donnerstag auf der Hauptbühne?“. Nee, der hieß Berq, ein junger Liedermacher aus Hamburg, ebenfalls zur besten Festivalzeit. Stark ja, auch groß genug für die große Bühne.
Berq tut aber auch etwas, was immer mehr Akteure machen: Er schöpft aus der Konserve: Einmal ist die komplette Bühne leer, aber die Musik und sogar der Gesang laufen weiter. Immer häufiger stellt sich den Zuhörern die Frage: Wie viel Musik kommt aus den Laptops und vom digitalen Track und wie viel von dem entsteht gerade erst aus der Magie des gemeinsamen Spiels?
Zweifel, die offenbar auch den führenden Kopf des kreativen vielköpfigen Organismus namens Haldern Pop bewegen: „Ich möchte nicht die digitale Welt abschaffen, sondern dass wir lernen, unser Selbstwertgefühl analog zu entwickeln“, sagt Reichmann.
Nähe schaffen ist das Geheimnis
Das Band der Musik, es soll Zuhörer und Musiker enger verknüpfen. Deswegen gibt es die quasi nicht vorhandene Bühne im Niederrheinzelt. Musik, barrierefrei. Dafür ist auch die große Treppe von der Hauptbühne Richtung Publikum, die noch viel zu wenig genutzt wurde.
Lobende Erwähnung daher für Gringo Meyer und die Kegelband. Klingt wie Schützenfest, ist aber kurpfälzisch angehauchter Bluesrock. Und funktioniert schon deshalb, weil die Truppe im Anzug auf die Bühne kommt. Die Botschaft: Wir haben uns für euch, liebes Publikum, schick gemacht, wir geben uns Mühe. Gelungen!
Eine Botschaft, die leider beim viel gehypten Hauptakt Fontaines DC so gar nicht rüber kam. Das war, am späten Freitag, brutal perfekter Überwältigungsrock mit Licht und Lärm, mit, leider, fast unmenschlicher Präzision und Kalkulation. Eine Formel, die für viele Fans aufgeht. Aber wer nur nach dem fünften Lied mal kurz „Hello!“ sagt, hat eine der Botschaften von Haldern nicht verstanden. Denn „Unser Geheimnis ist das Publikum“, sagt Stefan Reichmann. Menschen, die kommen und zuhören wollen. Dafür aber wollen sie aber auch angesprochen werden.
Das kann, beispielsweise Faber, der Schweizer Musiker, der keine Festivals mag, aber zum dritten Mal in Haldern spielt. Und jedes Mal ein bisschen mehr wächst: Dieses Mal mit neunköpfigem Ensemble und rauerer Stimme singt er von Leid und Liebe, integriert einen Heiratsantrag in seinen Auftritt und gräbt bis zu seinen sizilianischen Wurzeln.
Überhaupt: die Schweiz. Sie wäre in diesem Jahr im Medaillenspiegel gewiss weit vorn, war sie doch mit sieben Akteuren vertreten. Neben Faber war Créme solaire stark und auch die verschrobenen Geschichtenerzähler Fitzgerald & Rimini nicht von schlechten Eltern, wusste man doch vorher nicht, dass Akkuschrauber und Fotoapparat als Instrumente taugen und Fräulein Rottenmeier aus dem Heidi-Roman eigentlich sehr nett ist.
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Daneben überzeugten, mal wieder, die Iren. Denn die haben ja nicht nur die stahlharten Fontaines und die überlauten Just Mustards, sondern auch den weichherzigsten Steinmetz der Gesangswelt Mick Flannery und das musikalische Equivalent zu einem wohltuenden Schaumbad namens Villagers. Sie haben auch noch Susan O‘Neill, die mit Halderns Hauschor Cantus Domus und Stargaze zusammen hymnisch ihre Lieder zelebrieren durfte und seufzte: „Ich hätte gern einen größeren Tourbus.“
Haldern-Momente zum Mitnehmen, das würden Produktdesigner gewiss gern gewinnbringend eintüten. Doch man muss hingehen, sich herauswagen aufs Land, sich der Realität aussetzen, die dieses Mal angenehmerweise auf mieses Wetter verzichtete. Haldern ist wie Olympia: Man kann trainieren, man kann optimale Rahmenbedingungen schaffen, aber man kann die Medaille nicht garantieren. Manchmal fallen goldene Momente einfach vom Himmel. Wie die Sternschnuppen in diesen Augustnächten.
Wer sich den Blick in den Musikhimmel 2025 schon sichern will: Hier gibt es Tickets für Haldern Pop 2025 vom 7. bis 9. August.