Essen. Arena für Oscar-Preisträgerinnen: Der US-amerikanische Filmautor Todd Haynes liefert mit „May December“ einen exzellenten Frauenfilm.
Elizabeth hat eine riskante Film-Rolle angenommen. Es geht um Gracie, eine 36-jährige Frau, verheiratet und Mutter, die sich in die Affäre mit dem 13-jährigen Joe stürzt, einem Mitschüler ihres Sohnes – und schwanger wird. Weil Sex mit Minderjährigen illegal ist, muss sie ins Gefängnis, wo sie das Kind austrägt. Ihre Ehe wird geschieden. Sie heiratet Joe, als der volljährig ist, sie bekommen zwei weitere Kinder. Das ist die Film-Rolle und ihr liegt eine wahre Geschichte zugrunde. Dafür fährt Elizabeth nach Savannah, um die echte Gracie und ihre Familie kennenzulernen.
„May December“ brachte Todd Haynes eine Oscar-Nominierung für das Drehbuch ein
Eine höchst delikate Ausgangslage. Todd Haynes hat sie in seinem neuen Film im schwülen Klima der Südstaaten angesiedelt, wo Erwachsene gern mal aus der moralischen Korsage ausbrechen, solange die Form gewahrt bleibt und der Rahmen des Gesetzes. Ein Hauch von kaum gebändigter Skandallust durchweht schon die ersten Bilder dieses Films, dessen Drehbuch mit einer Oscar-Nominierung belohnt wurde. Was vielleicht auch darauf beruhte, dass es gewisse Wiedererkennungseffekte im Blick auf das nur bedingt vorteilhaft gezeichnete Filmgeschäft gab.
Wichtiger ist, dass Todd Haynes seit Jahren der einzige US-Filmemacher ist, der in einer Synthese aus Joan-Crawford-Melodram (40er-Jahre), Douglas Sirks Weltfluchtästhetik und Patricia Highsmiths Psychospannung (50er-Jahre) mit Ingmar Bergmans Kino der kühlen Dialoge und Blickachsen (60er-Jahre) seine filmkünstlerische Heimat gefunden hat. Filme wie „Dem Himmel so fern“ (2002), „Mildred Pierce“ (2011) und „Carol“ (2015) belegten das zuvor. Und „May December“ führt die Linie konsequent weiter.
Wie immer bei Haynes sind die Bilder edel, die musikalische Untermalung dazu ist bedeutungsschwer und alles addiert sich zu einem besonders fruchtbaren Nährboden für hochklassige Schauspielkunst. Diesmal sind es Natalie Portman (Elizabeth) und Julianne Moore (Gracie) sowie der in den USA hoch gefeierte Newcomer Charles Melton als erwachsener Joe, die keine Wünsche offenlassen, was die nuancierte Ausgestaltung komplizierter innerer Vorgänge angeht. Dabei sind es die beiden Oscar-Preisträgerinnen, die sich mit viel Haar auf dem Kopf und einer auch äußerlich subtilen gegenseitigen Annäherung wie zwei Löwinnen belauern. Natürlich ist das dann auch ein schicker Karneval der mimischen Eitelkeiten, den Haynes mit wachsender Freude am Konkurrenzkampf in präzise bemessenen Nahaufnahmen einfängt.
Julianne Moore und Natalie Portman belauern einander wie Löwinnen
Der Gewinner ist das Publikum, dem wie stets bei Todd Haynes etwas Geduld abgefordert wird, weil die Dinge nicht auf Anhieb so scheinen wie sie sind. Je mehr der schleichende Sog die Aufmerksamkeit bannt, desto mehr schwinden auch die Gewissheiten, wer in diesem trügerisch säuselnden Märchen für Erwachsene moralisch gefestigt ist und wessen Gefühle wirklich manipuliert werden.