Dortmund. Nach sechs Jahren Pause hat Marius Müller-Westernhagen in Dortmund den „75“-Tourauftakt gefeiert. Am Ende wurde er politischer als beabsichtigt.
Das letzte Mal, als Marius Müller-Westernhagen auf einer Tournee die großen Hallen der Republik füllte, war die Welt eine völlig andere: Corona, der Ukraine-Krieg, die Eskalation des Nahost-Konflikts, das Erstarken der Neuen Rechten – das alles war noch undenkbar. Und eine ganze Weile lang fühlt es sich auch am Freitagabend in der Dortmunder Westfalenhalle nach alter Zeit an: Westernhagen betritt im beigefarbenen Anzug die Bühne und spielt zunächst grußlos drei Lieder durch. Mit „Ich will raus hier“ von letzten Album „Das Eine Leben“ thematisiert er direkt zu Beginn die zurückliegende Pandemie, ohne weiter darauf einzugehen.
Die Bühne beeindruckt, nicht nur aufgrund des Protagonisten und der exzellenten Musikerinnen und Musiker, die er um sich versammelt hat. Hinter Westernhagen ist eine riesige LED-Wand aufgebaut, auf der seine Songs visuell in Szene gesetzt werden. Zu Beginn zeigt sie Graffiti mit Songschnipseln und Coronamasken. Bei „Taximann“ wähnt man sich hinter einer überdimensionalen, verregneten Windschutzscheibe. Zu „Sexy“ tanzen leicht bekleidete Frauen durchs Video, ein gelblicher Vintagefilter suggeriert das Gestern, in das Westernhagen seine Fans bereitwillig mitnimmt.
Westernhagen selbst bewegt sich nicht so viel wie die Bilder hinter ihm, bittet erst um etwas zu Trinken und nach einigen Songs um einen Hocker: „Wisst ihr eigentlich, wie alt ich bin?!“, ruft er seinen Fans mit gequältem Gesichtsausdruck zu, als diese gegen Ende des fast zweistündigen Konzerts eine weitere Zugabe fordern. Natürlich wissen sie das – schließlich hat Westernhagen seine Jubiläumstour danach benannt. „75“, genauso wie sein Jubiläumsalbum, auf dem 75 Songs aus den letzten 50 Jahren remastert wurden. Viele der Tracks hat Westernhagen auch am Freitagabend dabei.
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Spätestens bei „Es geht mir gut“ bricht auch in der Westfalenhalle das Eis. Die Fans in der komplett bestuhlten Halle erheben sich, wippen zwischen Platz und Rückenlehne des Vordermanns, zaghaft werden erste Handys gezückt. Verglichen mit anderen Konzerten ist die Mobiltelefon-Dichte über den Köpfen allerdings gering: Hier genießt mehrheitlich eine Generation Live-Musik, die noch gelernt hat, Bilder und Emotionen im Kopf abzuspeichern.
Es folgen an diesem Abend einige dieser typischen Westernhagen-Gänsehaut-Momente. Etwa, als seine Frau Lindiwe Suttle mit ihm gemeinsam „Luft zum Atmen“ performt, wie auf dem 2016 erschienen MTV-Unplugged-Album. Bei „Wieder Hier“ leuchten dann doch etliche Handy-Taschenlampen auf, liegen sich viele Menschen in den Armen. Mitsingen können sie natürlich alle, „in meinem Revier“. Ein vertrautes Wir-Gefühl stellt sich ein. Natürlich versäumt Westernhagen es nicht, bei der Gelegenheit auf den BVB im Champions-League-Finale hinzuweisen. Jubel. Trubel. Heiterkeit.
Westernhagen positioniert sich nicht, stattdessen singt er
Das ist mit dem Song „Schweigen ist feige“ plötzlich vorbei. Obwohl bereits 1996 veröffentlicht, ist der aktuelle Bezug ins heute nicht zu übersehen. Die große LED-Leinwand zeigt Greta und Gorbatschow aber auch Pro-Palästina-Demos und israelische „Free them all“-Proteste. Westernhagen positioniert sich nicht, stattdessen singt er: „Schweigen ist feige. Reden ist Gold“.
Das gibt er seinen Fans auch am Ende der zweiten Zugabe mit: „Ich wollte nichts Politisches sagen. Aber wir müssen miteinander reden. Und eigentlich wollte ich dieses Lied auch nicht mehr spielen.“ Weil aber die Lage in der Welt „so beschissen“ sei und es vielen Leuten Hoffnung mache, stimmt er es am Ende doch noch an. Freiheit, auch 37 Jahre nach Erstveröffentlichung das einzige, was zählt.