Essen. Die Schauspielerin fremdelt mit der überwältigenden Aufmerksamkeit, die seit der Oscar-Nominierung auf sie eingeprasselt ist.
Viermal war sie innerhalb von zehn Jahren Schauspielerin des Jahres auf deutschen Bühnen. Und nun blickt sie auf große Rollen in gleich zwei international hochgelobten Filmen, auf einen Europäischen Filmpreis und einen französischen „César“ als beste Schauspielerin, eine Nominierung als beste Schauspielerin bei den Golden Globes und dann noch eine Nominierung als beste Hauptdarstellerin bei den Oscars. Bei so viel Ehre musste Sandra Hüller einfach abheben. Aber nicht höhere Sphären. Sondern in Sandra-Hüller-Manier: Je größer ihr Ruhm, desto bodenständiger scheint diese erz-deutsche Schauspielerin zu werden.
Gut: Die allermeisten Interview-Anfragen hat sie in letzter Zeit abgesagt, nur für die „Süddeutsche“ macht sie mal eine Ausnahme oder wenn die „New York Times“ ein Team zu ihr nach Leipzig schickt, wo sie wohnt, mit dem Sohn und dem Lebensgefährten. Aber dann sagt die 45-Jährige fast abweisende, allemal coole Sätze wie: „Ich mag meine Wohnung. Ich mag meinen Alltag. Mir fehlt nichts, was ich irgendwie ersetzen müsste. Ich habe nicht darauf gewartet, dass das passiert.“
Sandra Hüller möchte nicht, dass die Leute ihretwegen ins Theater kommen
Sie mag den Ruhm nicht so sehr, auch wenn der sie gerade sehr mag. Es ist, als ob sie ihn in Kauf nimmt, um die Rollen zu spielen, die sie mag. Die kann sie sich längst aussuchen, im Theater wie im Film. Aber das heißt auch: Sie erwartet viel von sich. Sandra Hüller spielt vielleicht ein bisschen auch um des Beifalls willen, wie alle auf der Bühne. Aber in erster Linie muss sie, die hohe und höchste Ansprüche hat, selbst zufrieden sein mit dem, was sie da verkörpert, spielt, zeigt.
Sie ist ein Superstar und möchte keiner sein. Manchmal hat man den Eindruck, der ganze Glamour von Hollywood oder Cannes sei ihr eher lästig. Der Preis, den man seufzend dafür zahlt, wenn man verdammt gute Arbeit abliefert. Als sie hörte, dass die zuvor eher mäßig besuchten Vorstellungen ihres jüngsten Stücks „Der Würgeengel“ (eine Koproduktion des Schauspiels Leipzig mit dem Bochumer Schauspielhaus) nach ihrer Oscar-Nominierung plötzlich ausverkauft waren, sei sie traurig gewesen, vertraute sie der „New York Times“ an, schließlich habe das Ensemble das Stück gemeinsam entwickelt – und jetzt kämen die Leute ihretwegen.
Sandra Hüller ist allerdngs auch eine Schauspielerin der Extreme. Das gilt für ein heuchlerisches Scheusal wie Hedwig Höß, die Frau des KZ-Kommandanten von Auschwitz, die sie mit spürbarer Kälte und Verachtung für ihre Verdrängungsleistung in „The Zone of Interest“ spielt. Es ist eben nicht so, dass sie diese Rolle voll und ganz ausfüllt, Sandra Hüller betreibt kein „Method Acting“, sondern scheint immer ein paar Millimeter neben ihrer Rolle zu stehen. Es ist, als fülle sie diese Rollen nicht aus, sondern serviere sie. Und sie gibt ihnen den matten Schimmer eines Edelsteins im Rohzustand. Fürs Glatte, Polierte sind andere zuständig.
„Anatomie eines Falls“ Regisseurin Justine Triet schrieb Sandra Hüller die Rolle auf den Leib
Wie im Fall der Schriftstellerin Sandra Vouter, deren Rolle ihr von Regisseurin Justine Triet für „Anatomie eines Falls“ auf den Leib geschrieben wurde (daher der Vorname). Wenn Sandra Hüller an dieser Sandra Vouter besonders gefällt, dass sie „jemand zu sein scheint, dem es nichts ausmacht, was die Leute über sie denken“, ahnt man, wie nah sie ihr ist: „Sie weiß, wer sie ist, sie kennt die Wahrheit ihrer Motive, sie weiß um die Konsequenzen ihrer Handlungen und trägt sie auch ungerührt.“ Und doch sät Sandra Hüller, sät der Film Zweifel an dieser Sandra.
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Am Bochumer Schauspielhaus hat Hüller zur jüngsten Hochachtung der Kritik vor der Bühne nicht wenig beigetragen. Auch dort loben alle die enorme Ensemble-Dienlichkeit der Gast-Schauspielerin. Johan Simons brachte sie mit von den Münchner Kammerspielen, wo sie in der Zeit seiner Intendanz dort von 2010 bis 2015 zu seiner Lieblingsschauspielerin wurde, etwa in Elfriede Jelineks „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall“ oder in Heinar Kipphardts „März“. Simons vertraute Hüller auch in Bochum ein ums andere Mal tragende Rollen an: 2019 etwa einen Hamlet, nachdem sie zuvor schon ganz allein mit Jens Harzer in Kleists verbissener Liebestragödie „Penthesilea“ die Bühne ausfüllen durfte. Die etwas oberflächliche „Hamlet“-Inszenierung rettet sie fast im Alleingang, mit jener „schlanken, von den Verhältnissen angefassten Natürlichkeit“, die ihr Kritiker hier nicht zum ersten Mal bescheinigten.
Sandra Hüller ist im Theater immer „freie Mitarbeiterin“ – in jeder Hinsicht
Sandra Hüller kennt aber auch das Knarzen der Türen in Bochum, wenn Zuschauer unzufrieden den Saal verlassen: Vom hohen Kunstwert ihrer ambitionierten Produktionen in den Kammerspielen mit dem Regisseur Tom Schneider blieb sie immer überzeugt: „Ich habe immer Lust auf gute Stoffe und interessante Erfahrungen“, sagt sie, „da ist es mir eigentlich egal, woher sie kommen. Und ich bin ja nicht fest im Ensemble, sondern freie Mitarbeiterin. Ich kann entscheiden, wann ich im Theater bin.“ Und dort ist sie jedenfalls immer ganz bei sich.