Essen. Seine Liebe wuchs erst mit den Briefen, die er Frauen schickte: Kafkas Schreibdrang geht der Biograf Rüdiger Safranski auf den Grund.
Schon sein Studienwunsch Jura war davon bestimmt, dass er glaubte, das nebenher erledigen zu können. Um Zeit für sein Schreiben zu haben. Alles war für ihn von diesem Einsamkeit fordernden Vorgang bestimmt, den er gleichermaßen suchte und fürchtete: „Der Weg zum Nebenmenschen ist für mich sehr lang.“ Erst ganz am Ende, als es dafür fast zu spät war, konnte er in der Gegenwart einer Frau an seinem Werk arbeiten. Begegnet war er der ostjüdischen 25-jährigen Dora Diamant 1923 am Ostseestrand. Sie sah in ihm eine hohe drahtige Gestalt, dessen braune Haut und dunkles Haar sie an einen „Halbblut-Indianer“ denken ließen. Sie verliebten sich ineinander, machten Pläne und lebten ein halbes Jahr in Berlin zusammen. Dann blieb ihr nur noch, über sein Begräbnis zu entscheiden.
Keiner hat wie Franz Kafka die labyrinthischen Abgründe des 20. Jahrhunderts gespiegelt, indem er Literatur zu einem Ort der Verwandlung machte. Indem er mit Sprache Wirklichkeiten erschuf. Weil er dabei ausgesprochen extravagant vorging, blieb er zu Lebzeiten nur Eingeweihten bekannt. Und das, obwohl von den Verlegern Kurt Wolff und Ernst Rowohlt gefördert, einiges erschien und er faszinierend gewesen sein soll, wenn er seine Texte vortrug. Erst als sich sein Freund Max Brod über seine testamentarische Verfügung hinwegsetzte, alles ungelesen zu verbrennen, begann der Erfolg.
An Literatur über Kafka mangelt es nicht. Aber am 3. Juni dieses Jahres jährt sich sein Todestag zum 100. Mal, und so gibt es nun Kafka zuhauf: In der nächsten Woche startet ein Kinofilm über seine Liaison mit Dora Diamant, Ende des Monats folgt in der ARD eine Fernseherie. Und Rüdiger Safranski, der exzellente Biograph unseres klassischen Literatur- und Philosophiekanons, hat eine vergleichsweise schmale Werk- und Lebensgeschichte geschrieben. Weil Kafka unter den Deutungen zu verschwinden droht, bleibt er bei den Fakten. Er widmet sich dem „Schreiben selbst und dem Kampf darum“. Dabei geht er chronologisch vor, beginnt bei der Kindheit in Prag und präpariert den lebenslangen Konflikt mit dem Vater heraus, der in strenger Disziplin am Altstädter Ring ein Geschäft betrieb und vom Sohn erwartete, den sozialen Aufstieg fortzusetzen. Safranski beschreibt Kafkas prekäre Stellung als Jude, der in religiösen Bindungen keinen Halt findet, und seine Arbeit bei der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt“, wo er es recht schnell zu einer leitenden Stellung brachte. Er charakterisiert ihn als gepflegten Vegetarier, der die frische Luft mochte, Rauschmittel ablehnte und ein problematisches Verhältnis zur Sexualität hatte.
Viel Raum nehmen seine Beziehungen zu Frauen ein, denen er viele Briefe schrieb, auch um als „Held der erotischen Handlungshemmung“ tatsächliche Begegnungen zu vermeiden. Mit Felice Bauer, die er 1912 in Max Brods Wohnung erstmals traf, löste er zwei Verlobungen wieder auf. Warb um deren Freundin Grete Bloch, was wieder zu einem langen Briefwechsel führte. Auch mit Julie Wohryzek war er verlobt. Bis 1920 die Liebesgeschichte mit seiner Übersetzerin Milena Pollak begann, die aber von ihrem Mann nicht loskam. Auch hier viele Briefe, „die allmähliche Verfertigung der Liebe beim Schreiben“.
Safranski leitet von den äußeren Lebenskoordinaten dann doch hin zu ausführlichen Werkanalysen der zentralen Kafka-Texte. Um einen Menschen einzufangen, der nur aus Literatur besteht. Er arbeitet wiederkehrende Motive heraus, mit denen Kafka seine anderen Wirklichkeiten erschuf, und verweist auf die Texte verbindende Klammern, um dem Einsamkeit Suchenden nahezukommen: „ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“, schrieb Kafka wie ein Fazit in einem Brief.