Berlin. Carlo Chatrian hatte für sein letztes Festival zu vollmundig einen Paukenschlag versprochen. Der rote Teppich wird zum Fußabstreifer.

Wenn am Donnerstag die 74. Berliner Filmfestspiele eröffnet werden, hebt sich für den künstlerischen Leiter Carlo Chatrian, 52, ein letztes Mal der Vorhang. Nach fünf Jahren wurde sein Vertrag nicht mehr verlängert. Wie bei seinen beiden Vorgängern Moritz de Hadeln und Dieter Kosslick bedeutete es auch für den italienischen Impresario ein ziemlich unrühmliches Ende: 200 Filmleute, darunter Martin Scorsese, protestierten im Vorjahr vergeblich gegen die überraschende Absetzung des Berlinale-Leiters. Die Berlinale, die sich stets als ein politisches Festival verstanden hat, fand sich nicht zum ersten Mal in politischen Schachzügen wieder. Erst recht mit der heiß diskutierten Ausladung von Abgeordneten der AfD.

Kristen Stewart, Adam Sandler und Omar Sy kommen zur Berlinale

Einen Paukenschlag hatte Chatrian für sein letztes Festival im Vorfeld noch versprochen, tatsächlich aber wirkt der Wettbewerb so flau und unspektakulär wie nie. Hatte die Konkurrenz von Cannes und Venedig zuletzt massiv unter dem Hollywood-Streik zu leiden, verzichtet Berlin freiwillig auf die nun verfügbaren großen Namen. Glanz und Glamour glimmen auf ganz kleiner Flamme. Internationale Stars sind an einer Hand abzuzählen: Ex-„Twilight“-Queen Kristen Stewart gibt in „Love Lies Bleeding“ die Managerin von einem Fitness-Studio, in die sich eine Bodybuilderin verliebt. Netflix schickt Comedian Adam Sandler als „Spaceman“ auf Liebesmission ins All. Derweil „Ziemlich beste Freunde“-Star Omar Sy im syrischen Familiendrama „The Strangers’ Case“ auftritt.

Am Donnerstag beginnt der Berlinale-Trubel rund um den Potsdamer Platz. Kristen Stewart, die schon 2023 bei der  Berlinale war, kommt auch in diesem Jahr wieder.
Am Donnerstag beginnt der Berlinale-Trubel rund um den Potsdamer Platz. Kristen Stewart, die schon 2023 bei der Berlinale war, kommt auch in diesem Jahr wieder. © dpa | Fabian Sommer

Zur Eröffnung gibt sich der oscarnominierte „Oppenheimer“-Darsteller Cillian Murphy die Ehre. Den Medien allerdings gibt er einen Interview-Korb: Der Künstler steht nur für „offizielle Aktivitäten des Festivals“ zur Verfügung, lässt seine PR-Agentur im Vorfeld verlauten. Oscar-Kandidatin-Kollegin Sandra Hüller ist derweil nur filmisch präsent. Sie spielt in einer Episode der Serie „Zeit Verbrechen“. Bei einer Reise nach Ghana gerät sie in Lebensgefahr. Verzweifelt versucht der Partner in Deutschland eine Rettungsaktion. Zu retten wäre aber erst einmal die Serie selber, wurde sie doch vom Streaming-Anbieter „Paramount Plus“ kurzerhand aus dem Programm gestrichen.

Kult-Filmer Ethan Coen und Luca Guadagnino und „explizite Sex-Szenen“

Wie zum Hohn laufen die jüngsten Werke der Kultfilmer Ethan Coen und Luca Guadagnino zwar auf dem weltweit größten Publikumsfestival. Jedoch unter Ausschluss der normalen Zuschauer. Gezeigt werden die Knüller ausschließlich auf internen Vorführungen für Branchenvertreter am Rande des Festivals. Im offiziellen Programm läuft derweil eine Dokumentation über die Weltkunstschau Documenta – wohlgemerkt: die Documenta von 2017! Stolze 14 Stunden dauert das griechische Marathon-Werk „Exergue – On Documenta 14“. Der italienische Krimi „Dostojewski“ bringt es auf immerhin viereinhalb Stunden.

Das prominenteste Festival-Kion: Der Zoo Palast.
Das prominenteste Festival-Kion: Der Zoo Palast. © DPA Images | Fabian Sommer

Um Länge geht es auch in einem anderen Italien-Beitrag: „Supersex“ schildert als Netflix-Serie die Geschichte des berühmten Pornodarstellers Rocco Siffredi. Sex sells, das weiß man auch in Norwegen, dessen Beitrag kurzerhand „Sex“ als Titel trägt und von zwei Schornsteinfegern handelt, die sich über Geschlechterrollen unterhalten. Ungewöhnlich unprüde präsentieren sich die Briten. „The Visitor“ erzählt von einem schwarzen Geflüchteten, den es in einem Koffer am Themseufer in London anspült. In einem Haus verführt er danach jedes einzelne Familienmitglied, „dargestellt in expliziten Sex-Szenen“, wie der Katalog verrät und eine Neuinterpretation von Pier Paolo Pasolinis „Teorema“ verspricht.

Andreas Dresen verfilmte die Liebe zweier Widerstandskämpfer, „Sterben“ mit Lars Eidinger und Corinna Harfouch

Von Liebe und Tod handeln die zwei deutschen Bären-Jäger, beide von der Film- und Medienstiftung NRW gefördert. Andreas Dresen erzählt in seinem mittlerweile fünften Berlinale-Beitrag „In Liebe, Eure Hilde“ von der leidenschaftlichen Beziehung zweier Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg. Matthias Glasner hat nach „Der freie Wille“ und „Gnade“ mit „Sterben“ seinen dritten Wettbewerbsauftritt. Eine entfremdete Familie sieht sich dramatisch mit dem Tod konfrontiert. Das Ensemble liest sich als Who is Who des deutschen Kinos: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld und Robert Gwisdek treten auf.

Also doch noch ein bisschen Paperazzi- und Selfie-Glück am Roten Teppich, wenngleich kaum internationaler Glamour. Jenen Teppich kann man in diesem Jahr übrigens im Berlinale-Shop zur Meterware zurechtgeschnitten als Fußabstreifer kaufen. „Nachhaltiges Upcycling für den ultimativen Filmfest-Chic“ – das jedenfalls verspricht der Katalog.