Bochum. Facettenreicher Tanz-Abend zwischen Sexarbeit und Bibelzitaten: Imre und Marne van Opstal zeigen, wie Epilepsie Perspektiven verändert.
Die Welt, betrachtet durch die Linse der Epilepsie: Neurodiversität, Geschlechtsidentität, MeToo und existenzielle Verlorenheit – kaum ein Thema des aktuellen Diskurses, das an diesem Abend nicht zumindest gestreift würde. Basierend auf einem Text von Janja Rakuš entfalten Imre und Marne van Opstal, die auf glanzvolle Tanzkarrieren zurückblicken können, mit sechs internationalen Tänzern sowie drei Schauspielern des Bochumer Ensemblesein Kaleidoskop aus kollektiven Befindlichkeiten und individuellen Tragödien.
Pierre Bokma als Travestiekünstler und Sexarbeiter
Da ist Orfan (anrührend: Pierre Bokma), der seinen Körper als Travestiekünstler und Sexarbeiter mit künstlichen weiblichen Attributen verkauft und sich im Selbstgespräch trotzig seiner männlichen Identität versichert. Da ist Kinka, die – in derselben Branche tätig (das Stück spielt im Amsterdamer Rotlichtviertel) – sich mit tapferer Erkenntnis dem existenzbedrohenden Alter stellt. Und Vivian, die im Rückblick auf Ihre Karriere als Rechtsanwältin die Verteidigung von Sexualstraftätern thematisiert und damit die Grenzen zwischen gesellschaftlich sanktionierter und tatsächlicher Unmoral geraderückt (beide Rollen mit fulminanter Bühnenpräsenz verkörpert von Stacyan Jackson).
Schließlich ist da noch Wilhelm (William Cooper), der, kaum dem fundamentalistischen Protestantismus des Elternhauses entkommen, versucht, sowohl der realen wie auch der geistig-sinnlichen Obdachlosigkeit durch Flucht in eine wiederum religiös unterlegte Scheinwelt zu entfliehen. Das alles wird virtuell unterstützt von einem Programm, das einen kontinuierlichen Strom von Bibelzitaten generiert.
Gemeinsam ist den vieren die Erfahrung der Epilepsie, eines neurologischen Phänomens, das beim Betroffenen extreme Zustände emotionaler Beklemmung, halluzinatorischer Wahrnehmung und starker muskulärer Krämpfe hervorrufen kann. Das Regieteam möchte diese ausdrücklich nicht als Erkrankung verstanden sehen, sondern als „mehrdimensionales Tor zur Kreativität“. Und macht diese Auffassung mit einer hochfrequenten Bilderfolge plausibel: Bewegungen von graziöser Unerbittlichkeit, getrieben von pulsierenden elektronischen Rhythmen (Komposition: Amos Ben-Tal).
Imre und Marne van Opstal erschaffen eine dichte Bewegungssprache
Dazwischen immer wieder Momente extremer Entschleunigung: Passagen, die anmuten, als bewegten sich die Tänzer unter Wasser; Paare, die trotz enger Umschlingung jede Berührung zu vermeiden scheinen, getanzte Aphorismen der Einsamkeit. Imre und Marne van Opstal erschaffen in dieser Koproduktion mit dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden und dem niederländischen „Schrittmacher“-Festival mit Hilfe der exquisiten Tänzer-Darsteller eine sehr dichte, fiebrig entrückte Bewegungssprache, die selbst da ihre Poesie bewahrt, wo Körper gewaltvoll aufeinanderprallen.
Eine facettenreiche Spiegelung zeitgenössischer Themen, die beim Bochumer Publikum großen Anklang fand.