Essen. Ridley Scotts „Napoleon“ bringt glänzendes Monumental-Kino. Joaquin Phoenix ist so intensiv wie im „Joker“. Aber: der Film lässt einiges aus.
Schreiende Menschen, vom Blutrausch verzerrte Gesichter – ein gewaltiger Tumult beherrscht die Straßen von Paris. Eine Frau mit blondem Haar wird auf dem Henkerswagen durch die Menge gefahren. Auf dem Revolutionsplatz wird Marie-Antoinette, zu diesem Zeitpunkt immer noch Königin der Franzosen, enthauptet. Unter der johlenden Volksmenge befindet sich auch ein Hauptmann der Artillerie. Seine Züge verraten keinerlei Regung. Kurze Zeit später besucht er eine Versammlung der Revolutionsspitzen, auch hier bleibt sein Gesicht unbewegt ernst. Und dann huscht plötzlich doch ein Lachen über seinen Mund, lautlos, und selbstgewiss.
Es ist erst der zweite, auch diesmal nur kurze Auftritt von Joaquin Phoenix als Napoleon Bonaparte. Aber schon jetzt hat er dem neuen Film von Ridley Scott seinen Stempel aufgedrückt. Der historische Napoleon war an jenem 16. Oktober 1792 gerade einmal 24 Jahre alt. Sein neuer Darsteller aber war während der Dreharbeiten bereits 47, fast doppelt so alt. Eine Diskrepanz, die den Film beeinträchtigen könnte, ergibt sich daraus bemerkenswerterweise nicht. Joaquin Phoenix, 2020 oscarprämiert für seine Darstellerleistung in „The Joker“, macht sich die Napoleon-Rolle in einer Weise zu eigen, dass man ihm jede Szene glaubt, obwohl die Rolle doch im Laufe der zweieinhalb Filmstunden um 25 Jahre altert, ihr Darsteller hingegen fast gar nicht.
Vanessa Kirby großartig als Kaisergattin Josephine
Es ist ein riskanter, aber immens wirkungsvoller Kniff, weil es hier nicht um historische Akkuratesse geht, sondern allein um den Mythos Bonaparte, eines klein gewachsenen Mannes, der schon von der äußeren Erscheinung her (der quer sitzende Zweispitz, die Hand in der Weste, die Strähne in der Stirn) eine Unverwechselbarkeit mit sich brachte, die gleichermaßen beeindrucken und zur Karikatur einladen kann. Ridley Scott und Drehbuchautor David Scarpa (dessen Name auf dem Plakat genauso groß erscheint wie der Name des Regisseurs) folgen Napoleons Werdegang von der Befreiung des Hafens im südfranzösischen Toulon 1793 bis zu seinem Tod auf der Insel St. Helena 1821. Sie zeigen ein bisschen Ägypten, den Triumph bei Austerlitz, die Kaiserkrönung, den Einmarsch in Moskau, die Niederlage bei Waterloo und als roten Faden die Beziehung zur sechs Jahre älteren Josephine de Beauharnais.
In dieser Rolle glänzt Vanessa Kirby (bekannt als Weiße Witwe in „Mission: Impossible“ oder als Prinzessin Margret in „The Crown) mit gewohnt ironischem Blitzen in den Augen, was in den erschreckend unromantischen Bettszenen für Amüsement sorgt.
Ernsthafte Konkurrenz für „Oppenheimer“ in der Schlacht um die Oscars
Was der Film nicht zeigt, sind diverse Feldzüge (u.a. auch die Dreivölkerschlacht) und Napoleon als Politiker, der Frankreichs Rechtsprechung (den Code Civil) und die Neuordnung Europas über ein Jahrhundert hinweg prägen wird. Manche wird das enttäuschen, aber auch ein Film von sieben Stunden Länge (dieser hat 160 Minuten) könnte der Komplexität der Titelfigur nicht gerecht werden. Ridley Scotts Blick bewundert den Feldherrn, zeigt aber auch die Verblendung im Machtrausch und die fatale Skrupellosigkeit, im Dienste einer Sache über Leichen zu gehen; wer einen Protestmarsch von Landsleuten mit Kanonen niederschießen lässt, stellt auch eine Armee der Tausenden auf, um sie auf dem Feld zu opfern.
Die Schlachtszenen sind von einer kongenialen Wucht, grandios anzuschauen als Panorama, bestürzend in ihrer Gewalttätigkeit. Ob Napoleons schwindendes Kriegsglück wirklich durch die Scheidung von Josephine beeinflusst war, ist für die Geschichtsschreibung vielleicht eine etwas zu schicksalstrunkene Idee. Auf der Leinwand aber funktioniert sie prächtig. Der Film hat keine einzige langweilende Minute und kann bei der nächsten Oscar-Entscheidung zur ernsten Konkurrenz für „Oppenheimer“ werden.
Eines steht schon jetzt fest: Wie einst mit „Gladiator“ hat Ridley Scott dem Monumentalfilm eine glanzvolle Wiederkehr beschert.
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Kaum ein reales Vorbild (abgesehen von Adolf Hitler) hat jahrzehntelang für immer neue Inkarnationen auf der Kinoleinwand gesorgt als Napoleon Bonaparte.
Die glorreichste war Albert Dieudonné in Abel Gances vierstündigem Stummfilmgiganten „Napoleon“ von 1927. Sacha Guitry gab 1955 einen geistreich bespöttelten Napoleon, im selben Jahr mimten Marlon Brando in „Desiree“ und Herbert Lom in „Krieg und Frieden“ die korsische Ikone.