Dortmund. Raphaël Pichons kluges Mozart-Programm im Konzerthaus Dortmund fegt wie ein Tornado, wie von Furien gehetzt und rührt an – und sorgt für Stille.

Was im Schauspiel heute Alltag ist, gilt in der klassischen Musikwelt als Frevel: ein Kunstwerk zu zerteilen und andere Stücke hinein zu montieren, als sei es ein Regalsystem von Ikea. Der Dirigent Raphaël Pichon ist aber kein minderbegabter Heimwerker, sondern ein gefeierter Experte auf dem Feld zwischen Monteverdi und Mendelssohn. Lange muss er über das Mozart-Programm nachgedacht haben, das er jetzt im Konzerthaus Dortmund aufführte.

Der Abend gleicht einer Studie, einer musikalischen Meditation, die weder Pause noch Zwischenapplaus zulässt. Im Kreis umschreiten Pichon und das von ihm gegründete Ensemble Pygmalion die legendäre Totenmesse (Requiem) Mozarts, die unvollendet blieb, weil der Komponist im Alter von 35 Jahren verstarb. Ausgangs- und Endpunkt ist die gregorianische Melodie „In paradisum“, die einst bei Bestattungen erklang.

Knabensopran Chadi Lazreq singt das gregorianische „In paradisum“ vom Balkon herab

In Dortmund singt der Knabensopran Chadi Lazreq sie vom Balkon herab: hell, rein, anrührend verloren. Danach leiten drei kleine Mozart-Werke auf das Hauptwerk zu: der Doppelkanon „Ach, zu kurz“, die Urfassung der „Maurischen Trauermusik“ und das „Miserere mei“ (KV 90). Die Pausen, die dazwischen entstehen, unterstreichen den bruchstückhaften Charakter des Requiems, das nach Mozarts Tod von Franz Xaver Süßmayr vervollständigt wurde.

Pichon und das Ensemble Pygmalion präsentieren es in vier Blöcken, durchbrochen von verschiedenen Gesangswerken, die einen inneren Bezug zum Requiem aufweisen. So entsteht ein musikalisches Spiegelkabinett voller Querverweise und Rückgriffe. Wir erleben einen Exkurs über Tod und Auferstehung, bei dem jeder Auf- und Abtritt der Sängerinnen und Sänger perfekt durchchoreographiert ist.

Edle Stimmen von Yin Fang, Beth Taylor, Laurence Kilsby und Nahuel Di Pierro uneitel im Dienst an der Sache

Chor, Orchester und Gesangssolisten untermauern das ausgeklügelte Konzept durch vehementen Einsatz und überragendes Können. Pichon geht gern in die Extreme: Im „Kyrie“ klingen die Rufe nach Erbarmen, wie von Furien gehetzt. Der Tag des Jüngsten Gerichts („Dies Irae“) fegt wie ein Tornado über uns hinweg. Das ist aufregend, zuweilen auch atemlos, ein Hochgeschwindigkeitsmusizieren auf der Überholspur.

Pichon hat genug Exzellenz um sich versammelt, um sich dergleichen erlauben zu können. Im stimmstarken Chor singen fast alle auswendig, kein Tempoexzess wirft ihn aus der Bahn, so wenig wie das Orchester, das auf historischen Instrumenten spielt. Yin Fang (Sopran), Beth Taylor (Alt), Laurence Kilsby (Tenor) und Nahuel Di Pierro (Bass) stellen ihre edlen Stimmen uneitel in den Dienst an der Sache.

Nach dem letzten Ton herrscht eine ungewohnt lange Stille. Danach rasender Beifall.