Essen. Bunte Tüte, volle Kanne: Lesungen von Anna Schudt bis Campino zum Finale der Lit.Ruhr. Entertainment, Literatur und ein Gigant der Lesekunst.
Das Lesefest als bunte Tüte. In den Anfangsjahren hat die Lit.Ruhr die Klümpkes mit dem intensiven Nostalgiegeschmack und Buden-Erinnerungen in Lakritzschwarz noch dezent aus dem Sortiment genommen. Mittlerweile sind die Leseabende aus dem Revier aber ein Renner im Programm, neben viel Kunst, Pop und Prominenz bei diesem Literatur-Schichtbetrieb am laufenden Lese-Band. Zur siebten Ausgabe des Festivals, das am Sonntag zu Ende ging, kamen 17.500 Zuschauerinnen und Zuschauer, ein erneuter Zuwachs.
Revier-Bröckchen mit Anna Schudt und Dietmar Bär – süßsaure Liebeserklärungen
Die Zollverein-Halle 5 ist rappelvoll, wenn Anna Schudt und Dietmar Bär zu einer „literarischen Revue über die besonderen Kleinigkeiten des Lebens im Ruhrgebiet“ laden. Schauspielerin Anna Schudtlebt zwar in Düsseldorf, wurde als langjährige „Tatort-Kommissarin Martina Bönisch aber selbstverständlich eingemeindet. Und auch ihr in Köln ermittelndes Krimi-Pendant Dietmar Bär hat das Ruhrgebiet regelrecht auf der Zunge. Nicht nur, wenn er uns die heimische Küche mit Dicke Bohnen, Möhren-Durcheinander und Erbsensuppe mit Schweinepfötchen schmackhaft macht. Kai Magnus Sting, Herbert Knebel und Wolfgang
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Welt, Fritz Eckenga und Joseph Roth kommen an diesem Abend in die von Moderator Thomas Böhm abwechslungsreich sortierte bunte Literaturtüte. Ihre Texte erzählen von dem kleinen und großen Ereignissen zwischen Trinkhalle und Taubensportverein, machen ruppig-raue Liebeserklärungen an die Liebste über Tage und bringen selbst Shakespeare die Ruhrpott-Töne bei. Irgendwann singen dann alle im Saal „Bottroper Bier“ statt „Griechischer Wein“, wie es Jürgen von Manger als legendärer Tegtmeier einst getan hat. Das letzte Wort aber gehört in dieser Lesung einem, dem das Ruhrgebiet weit mehr ist als eine raschelnde Tüte voller süßsaurer Erinnerungsdrops, weil er auch die bitteren Nuancen auskostet: Ralf Rothmann.
Ralf Rothmann, die „Theorie des Regens“ und ein verkappter Liebesroman
Der in Oberhausen geborene Schriftsteller, gerade 70 geworden, ist in diesem Jahr auch persönlich zur Lit.Ruhr gekommen. Sein jüngstes Buch, „Theorie des Regens“ ist eine vergnügliche und überraschend persönliche Zusammenstellung von kleinen Erzählstücken, Gedankensplittern und Beobachtungen. Notizen aus 50 Jahren, die in Rothmanns Romanen keine Verwendung gefunden haben, geben Auskunft über die Weltsicht und die Entwicklung eines Autors; chronologisch angeordnet und von gleichbleibender sprachlicher Qualität: „Meine staksigen Anfänge wollt ich niemanden zumuten“, erzählt Rothmann im Gespräch. Überraschendes und Unkonventionelles trifft da auf und ganz Alltägliches und sehr Privates: Kurze Wortwechsel aus dem Baumarkt, Momentaufnahmen von einer Japan-Reise, Erinnerungen an der Krebstod des Vaters und lauter kleine, festgehaltene Glücksmomente mit seiner langjährigen Lebenspartnerin Anja. Manche hätten gesagt: „Das ist ja ein Liebesroman“, berichtet Rothmann. „Ich sehe das nicht so. Das ist unser Leben. Das rein Fiktive hat mich immer sehr unberührt gelassen.“
Campino und der Artillerie-Vater, der spät zum beinharten „Tote Hosen“-Fan wurde
Dass ausgerechnet ein Rockstar aus Düsseldorf mal zu den steten Gästen eines Literaturfestes im Ruhrgebiet gehört, hätte man auch nicht gedacht. 2020 hat Campino in Essen sein Autoren-Debüt mit „Hope Street: Wie ich einmal englischer Meister wurde“ gegeben. Diesmal sitzt er als Moderator auf dem Podium, zusammen mit Philipp Oehmke, Schriftsteller, Spiegel-Autor und Verfasser der „Hosen“-Biografie „Am Anfang war der Lärm“.
Oehmkes Romandebüt „Schönwald“ ist zwar ein Buch über deutsche Schuld, dysfunktionale Familien und die Frage, ob man queere Buchläden mit „Nazigeld“ finanzieren darf, aber ein bisschen Tote-Hosen-Punk ist dann doch drin. Was dem Frontmann der Band die Möglichkeit gibt, auch ein wenige aus dem eigenen Familienleben zu plaudern. So sei sein Vater auf seine alten Tage noch ein beinharter „Hosen“-Fan geworden, obwohl bei dessen erstem Konzertbesuch in der Mensa der Uni Düsseldorf damals ziemlich viel kaputt gegangen ist. Auch die angebotenen Ohrstöpsel habe er damals energisch abgelehnt: „.Junge, ich war bei der Artillerie!“
Extrawurst mit Florian Illies und Caspar David Friedrich im Folkwang
Im Museum Folkwang gab es für das Lit.Ruhr-Publikum eine gedruckte Extrawurst: Florian Illies‘ neues Buch (mit Bestsellergarantie) über Caspar David Friedrich (1774-1840), das erst am 25. Oktober erscheint, gab es hier schon eine Woche vorher am Büchertisch der stark gefragten Lesung zu kaufen. Aber was heißt hier Lesung? Illies (52), der mit all seinen Entertainer-Qualitäten Sympathie für Caspar David Friedrich und Neugier auf sein Buch zu wecken verstand, machte plaudernd jeden Wasserfall neidisch und es der Moderatorin Claudia Dichter nicht leicht, dazwischenzukommen. Als dann zwischendurch kurz das Mikrofon ausfiel, fragte Illies mit ironischem Erschrecken, ob dem Tontechniker vielleicht seine Antwort zu lang ausgefallen war. Der Satz des Abends fiel nebenbei: „Liebe macht gar nicht blind“, antwortete Illies einmal, „wer lange verheiratet ist, weiß das nur zu gut!“
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Und was war zu erfahren im CDF-Schnellkurs? Dass unglaublich viele von Friedrichs Bildern bei diversen Unglücken verbrannt sind, dass nur die Hälfte seiner 300 bis 350 Gemälde erhalten blieb, dass einer der berühmtesten Künstler des 19. Jahrhunderts über weite Strecken eben dieses Jahrhunderts vergessen war („ab 1830 will ihn keiner mehr sehen“), die Prophetie seines letzten Bildes „Das brennende Neubrandenburg“, die sich in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 erfüllen sollte, dass CDF kein einziges Gemälde, aber seine Zeichnungen signiert hat – „man kann das nicht erklären, aber man sollte es erzählen“. Das tut Illies dann auf seine Art, die wir aus millionenfach verkauften Büchern wie „Generation Golf“ oder „1913“ kennen.
Matthias Brandt und Bjarne Mädel wurden zu Figuren von Ingrid Lausund
Auf Zollverein mussten in der eh schon großen Halle 12 noch zusätzliche Stühle aufgestellt werden, so groß war der Andrang zu Bjarne Mädel und Matthias Brandt. Dass ihre Namen den der Autorin Ingrid Lausund überstrahlen, die enorm erfolgreiche Drehbücher (wie den „Tatortreiniger“) und Theaterstücke („Tür auf, Tür zu“) schreibt, sollte sich nach Mädels Dafürhalten ändern – aber Lausunds Stärke liege nun einmal darin, dass sie „total hinter ihren Figuren zurücktritt“.
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Matthias Brandt bekannte sich zu einem Faible „für all diese umgeknickten Existenzen“, die Lausund da dem Leben abgeschrieben hat. Und brillierte etwa mit dem inneren Monolog eines Mannes, der Abends im ehelichen Bett verzweifelt darüber grübelt, was er nun machen soll, da er das Haus der Familie verspekuliert hat. Brandt liest da nicht einen Text, er i s t dieser Mann bis in Haar- und Gedankenspitzen hinein, nervös, panisch, irrlichternd, ein Pendel zwischen illusorischer Hoffnung und abgründiger Verzweiflung. Große, nein: größte Lese-Kunst! Von einem Bühnen-Giganten, der so leise, so bescheiden, so erz-menschlich daherkommt.