Essen. „Das Trauma der Arbeitsmigrant/Innen am Beispiel meiner Familie“ heißt es auf „Kartonwand“. Fatih Cevikkollu liest in Essen aus seinem Buch.

„Fatihland“ heißt das Programm, mit dem er immer noch auf Tour ist, es gibt auch „Komm zu Fatih!“ und „Fatihmorgana“. Witzig, aber dass der vor allem als Kabarettist und Stand-up-Comedian bekannte Fatih Cevikkollu auch das ernsthafte Fach beherrscht, beweist er als Schriftsteller.

In seinem neuen, biografischen Buch „Kartonwand“ beschreibt der 1972 in Köln geborene Sohn türkischer Eltern, wie er in Deutschland aufgewachsen ist und wie sich das Leben der ersten Generation von Einwanderern aus der Türkei, die im Zuge des Anwerbeabkommen ab den 1960er Jahren nach Deutschland kamen, in der für sie neuen Umgebung gestaltete.

Für das deutsche Wirtschaftswunder wurden hunderttausende Arbeitskräfte gebraucht, vor allem für körperlich harte und schlecht entlohnte Maloche, zum Beispiel im Bergbau oder in der Stahlindustrie. Sie kamen aus der Türkei, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal nach Deutschland, vor allem die Türken hatten nicht vor, in dem fremden Land mit der schwierigen Sprache und dem oft ungemütlichen Wetter zu bleiben. So viel Geld wie möglich verdienen und dann nach ein paar Jahren wieder in der Heimat zurückkehren, so war der Plan.

In dem biografischen Buch „Kartonwand“ beschreibt Fatih Cevikkollu die Einwanderungsgeschichte seiner Familie – und woran Integration scheitert.
In dem biografischen Buch „Kartonwand“ beschreibt Fatih Cevikkollu die Einwanderungsgeschichte seiner Familie – und woran Integration scheitert. © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Immer auf die Rückkehr vorbereitet

Von Integration kann keine Rede sein, das deutet Fatih Cevikkollu schon im Untertitel zu „Kartonwand“ an. Diese Wand aus Kartons symbolisiert den permanenten Zustand des Aufbruchs und der Sehnsucht nach Rückkehr, wie sie wohl die meisten Zugezogenen damals antrieb und es sicher auch heute noch empfinden. Viele türkische Familien jedenfalls bauten in ihrer Wohnung in Deutschland eine Wand aus Kartons – darin waren all die Sachen vorbereitet, die sie mitnehmen würden, wenn es wieder nach Hause ginge.

Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, wissen wir, dass sich für viele dieser Familien dieser Wunsch nicht erfüllte. Sie blieben in Deutschland, ein Teil schaffte es, anzukommen – und ein anderer Teil eben nicht, so entstanden Parallelgesellschaften, in denen eine Integration der dritten und vierten Generation der damals Zugezogenen immer schwieriger erscheint.

Ob das an ihnen selbst liegt oder daran, dass Deutschland zwar ein Einwanderungsland ist, aber die Willkommenskultur ausbaufähig ist, das beschreibt Fatih Cevikkollu auf aufwühlenden 200 Seiten. „Das Trauma der Arbeitsmigrant/Innen am Beispiel meiner Familie“ heißt es im Untertitel zu „Kartonwand“. Die Cevikkollus sind ein typisches Beispiel für die 1960er-Jahre. Vater Özden folgt als Erster aus der Familie dem Ruf nach Deutschland, er landet in Köln und fängt bei Ford an. Beim Autobauer will er genügend Geld verdienen, um die in der Heimat gebliebene Familie zu unterstützen.

Klassische Familienstrukturen

Als Özden Cevikkollu nach zwei Jahren immer noch in der Domstadt weilt, kommt seine Frau Rüksan 1968 nach. Ein Jahr später kommt in Köln der erste Sohn zur Welt, dann folgen Fatih und sein jüngerer Bruder. Während der Familienvater, das klassische Oberhaupt der Familie, das Geld verdient und eine klare Struktur in seinem Leben hat, kommt Rüksan Cevikkollu nie in Deutschland an. Sie lernt die Sprache nicht, hat nur Umgang mit anderen türkischstämmigen Frauen und ansonsten genug mit dem Haushalt und den Kindern zu tun. Eine fatale Entwicklung.

„Es gibt die Türkei als Lebensziel, und alles wird dorthin ausgerichtet. Das ist der Klassiker. Egal, welchen türkischstämmigen Menschen der ersten und zweiten Generation man fragt: Alle hatten zu Hause eine Wand mit Kartons, im Keller, im Flur, in einem anderen Zimmer, in denen die Sachen, die man mit in die Türkei nehmen wollte, aufbewahrt wurden. Alles Schöne und Wertvolle wurde aufgespart. Oder eben Dinge, die in Deutschland gut und günstig sind. Das Hässliche wird in Deutschland benutzt, das Schöne geht mit ins Paradies“, schreibt Fatih Cevikkollu im Kapitel „Das Provisorium“. Und weiter: „Das Grundkonzept der Arbeitsmigrant:innen war: Wir machen das hier vorübergehend, und dann kehren wir zurück. Also: Wir arbeiten jetzt und leben später. Aber dieses Zurückgehen wurde nie umgesetzt, weder konkret geplant noch verworfen, das Ziel blieb eine Fata Morgana.“

Dass zu Hause in der 50-m²-Wohnung in Nippes nicht alles in Ordnung ist, merkt Fatih schon als Kind. Wie sein älterer Bruder wird er in die Heimat geschickt und wächst zunächst bei den Großeltern in Adana auf. Das in Deutschland ist ja alles nur vorübergehend… Als schließlich klar wird, dass die Familie doch länger in Köln bleibt, wird Fatih zurückgeholt. Ab dann erlebt er eine halbwegs normale Kindheit, hat deutsche, türkisch- und andersstämmige Freunde – seine Mutter aber verändert sich in der Isolation...

Mittwoch, 18. Oktober, 21 Uhr: „Kartonwand“, Lesung und Gespräch mit Fatih Cevikkollu und Soziologe Aladin El-Mafaalani, Salzlager UNESCO-Welterbe Zollverein, Heinrich-Imig-Straße 11, 45141 Essen. Tickets für 18 Euro hier.
Weitere Termine:
16. Oktober, Bergische Volkshochschule, Wuppertal; 24. Oktober, Kulturraum Synagoge Lippstadt; 26. Oktober, VHS Köln-Mülheim; 15. November, Valeara, Bottrop; 16. November, Clouth Werke, Köln; 22. November, Schloss Horst, Gelsenkirchen; 29. November, Haus der Geschichte, Bonn.Weitere Infos und alle Terminehier