Dortmund. Puccinis Künstler-WG mit Schmiss und Präzision: herzrührender Gesang, eine raffinierte Spielweise – nur die Ausstattung lässt zu wünschen übrig.
Lassen wir den Komponisten mal zu Wort kommen: „Das Buch hatte alles, was ich suchte und liebe: Die Frische, die Jugend, die Leidenschaft, die Fröhlichkeit, die schweigend vergossenen Tränen“, bemerkte Puccini seinerzeit zur literarischen Vorlage (Scènes de la vie de bohème oder Szenen aus dem Pariser Leben von Henri Murger). Dasselbe lässt sich über die neue Dortmunder Inszenierung sagen.
Wie Gil Mehmert (Regie) hier die Künstler-WG vorstellt, die ihre prekäre Existenz mit Humor, Fatalismus und charmanter Skrupellosigkeit meistert, das hat Verve. Da sitzt jeder Seitenblick und jede Bewegung. Da wird man nur zu gerne klammheimlicher Komplize der kleinen und größeren Gaunereien. Und beobachtet gebannt, wie mit dem Auftritt der Akteurinnen – die eine (Mimi) todkrank, die andere (Musetta) zahlenden Liebhabern nicht abgeneigt – nicht nur die Liebe, sondern auch Drama und Tragik Einzug in den Männerhaushalt finden. Bei der Ausstattung greift Mehmert auf Altbewährtes zurück. Die malerische Armut in der Mansarde wird zwar zur malerischen Armut im Gewächshaus (auf der Dachterrasse), ansonsten verharrt die Aufführung in der hinlänglich bekannten Belle-Epoque-Ästhetik (Kostüme, mit sichtbarer Freude an der mutwilligen Überzeichnung: Falk Bauer).
Mit emotionaler Wucht – aber gebremst
Das gefällige Dekor bremst ein wenig die emotionale Wucht, die man an moderneren Regiekonzepten schätzt (etwa Floris Visser in Osnabrück oder Robert Carson in Düsseldorf). In Dortmund wird ein Tablett mit Petits Fours serviert. Eigentlich findet man das erste bereits viel zu süß; dennoch nascht man auch die restlichen mit einigem Genuss. Nicht zuletzt, weil Mehmert die Bühne (Jens Kilian) mit Raffinesse bespielt. Das gläserne Künstlerdomizil weicht zurück und wird zum Teil des pittoresken Weihnachtsmarktes, während das Café Momus, die Stammkneipe des Künstlerquartetts, aus dem Bühnenboden auftaucht. Die zweite Ebene wiederum zwingt das Publikum im dritten Bild unmittelbar an Mimis Seite, während sie anhören muss, wie Rudolfo auf der Oberbühne seine Unfähigkeit gesteht, mit ihrer Krankheit umzugehen. Auch der Umgang mit der Requisite: Die Badewanne, zunächst Zeugnis bohèmesker Unordnung, dann Esstisch und schließlich Sterbebett: Das sind Bilder, die gerade in ihrer grotesken Überspitzung ins Herz treffen.
Von wegen leichte Muse – Maestro Gabriel Feltz mit einem klar konturierten Dirigat
Den Weg dahin bahnen sich vor allem aber die durchweg großartigen Sänger-Darsteller. Anna Sohn ist eine Mimi von großem Liebreiz. So, wie sie ihre Stimme mühelos in strahlende Höhe führt und dennoch in jedem Moment die Zerbrechlichkeit der todgeweihten Modistin zum Ausdruck bringt, ist man schon eingangs, wenn sie noch der Poesie der kleinen Dinge besingt, zu Tränen gerührt. Sungho Kim, kurzfristig eingesprungen, schien anfangs indisponiert, lief aber spätestens mit Mimis Auftritt zu erstaunlicher Form auf. Er ließ es seinem Rudolfo weder an Strahlkraft noch an Schmelz fehlen. Rinnat Moriah trillerte und gurrte als Musetta, dass es eine Freude war, und scheute dabei auch nicht die schrillen Töne. Mit umwerfender Bühnenpräsenz verwandelte sie das Momus ins Moulin Rouge. Mandla Mndebele (Marcello) zeigte sich der Charmeattacke mit geschmeidigem Bariton jederzeit gewachsen. Auch Denis Velev (Colline) und Morgan Moody (Schaunard) seien erwähnt, ebenso die Tatsache, dass die komplette Inszenierung mit Mitgliedern des Ensembles gemeistert wurde.
Maestro Gabriel Feltz strafte all jene Lügen, die Puccini gern als Vertreter der allzu leichten Muse abtun: Sein fast nüchtern klares und jederzeit konturiertes Dirigat zeigte die ungeheure Präzision Puccinis, entfaltete feine Gewebe von Motiven Reprisen mit großer Delikatesse. Großer Beifall!
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„La Bohème“, Oper Dortmund Platz der Alten Synagoge. Tickets: Tel. 0231/50 27 222 oder ticketservice@thea- terdo.de.
Weitere Termine: 14., 24. und 27. September, 1., 6. und 14. Oktober; weitere Vorstellungen in November, Dezember und Januar.