Essen. Ralf Rothmann möchte den Literaturpreis Ruhr nicht zum zweiten Mal erhalten – dass er wieder nominiert wurde, hat mit einem Systemwechsel zu tun.
Könnte sein, dass Ralf Rothmann mit seinem Roman „Die Nacht unterm Schnee“ tatsächlich das beste Ruhrgebietsbuch der letzten zwölf Monate geschrieben hat. Es gibt gute Argumente dafür. Trotzdem wird in diesem Jahr ein anderes Buch mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet werden. Denn Ralf Rothmann hat darum gebeten, sein Buch aus der Liste der letzten fünf Kandidaten, der „Shortlist“ zum Literaturpreis, zu streichen. „Es ergäbe in meinen Augen ein schiefes Bild, so einen Preis zweimal zu erhalten“, schrieb er. Es war allerdings ein Eklat mit Ansage, das logische Resultat eines Systemwechsels beim Literaturpreis Ruhr.
Dieser Systemwechsel geschah auf Betreiben des Regionalverbands Ruhr (RVR), der den Preis finanziert und gemeinsam mit dem Literaturbüro Ruhr in Gladbeck vergibt. Der Spitze des RVR waren die alljährlich in einer anderen Stadt des Ruhrgebiets vorgenommenen Preisverleihungen zu betulich, zu unspektakulär (obwohl das ja durchaus zum Wesen und Wirken des RVR passen würde). Die Preisverleihungen sollten mehr Gala-Charakter bekommen, mehr Glamour verströmen, mit dem „And the winner is ...“-Flair aus Hollywood als Sehnsuchtsvorbild.
Nach Max von der Grün und Josef Reding keine One-Hit-Wonder
Dazu musste allerdings auch der Charakter des Preises verändert werden. Bis 2018 war der 1986 auf Betreiben der Revier-Autoren Herbert Somplatzki und Volker W. Degener ins Leben gerufene Preis eine Auszeichnung, die in der Regel ein Lebenswerk würdigte, zumindest aber Autorinnen und Autoren, die erwiesenermaßen keine One-Hit-Wonder waren, sondern mehrere Bücher auf beachtlichem bis herausragendem literarischen Niveau vorzuweisen hatten. Nach „klassischen“ Revier- und Arbeitswelt-Federn wie Max von der Grün, Josef Reding, der Lyrikerin Lieselotte Rauner oder Hans Dieter Baroth standen nicht selten Namen auf der damals mit 10.000 Mark dotierten Preis-Urkunde, die mit Kinderbüchern oder Krimis verbunden waren.
Frank Goosen und Ralf Rothmann waren Ausnahmen, wie Norbert Wehr und „Kalle“ Gajewsky
Von dem Prinzip, ein ganzes Portefeuille von Büchern auszuzeichnen, machte die Jury des Preises nur selten eine Ausnahme – Frank Goosen hatte 2003, im Jahr der Preisverleihung an ihn, gerade nach „Liegen lernen“ sein zweites Buch „Pokorny lacht“ herausgebracht. Zweimal würdigte der Preis auch Höchstleistungen an der scheinbaren Peripherie des Literaturbetriebs: 2010 wurde Norbert Wehr, Herausgeber der ambitionierten, seit Jahrzehnten auf höchstem Niveau agierenden Literaturzeitschrift „Schreibheft“ geehrt – und 2013 Karl-Heinz Gajewsky als Betreiber der akustischen Ruhrgebietsliteratur-Dokumentation „Reviercast“ im Internet.
Zu den früh ausgezeichneten Autoren gehörte auch Ralf Rothmann, der 1996 gerade einmal zwei Romane, Erzählungen und Gedichte vorzuweisen hatte und danach noch Dutzende von weiteren Preisen bis hin zum Thomas-Mann-Preis in diesem Jahr verliehen bekommen sollte (in dem er auch Notizen unter dem Titel „Theorie des Regens“ als Buch herausbrachte). Die neuerliche Nominierung aber brachte Rothmann in ein Dilemma: Würde er im Preis-Rennen unterliegen (wofür viel gesprochen hätte, weil er nicht einmal mehr ein junger weißer Mann ist), wäre sein Renommee ohne Not beschädigt – bekäme er den Preis aber doch und dann zum zweiten Mal, hätte er verhindert, dass etwa so ein großes Talent wie Lisa Roy für ihren furiosen Debüt-Roman „Keine gute Geschichte“ ausgezeichnet wird und damit einen ähnlichen Förderungsschub erhält wie Rothmann am Beginn seiner Karriere. Für ihn selbst hätte eine zweite Preisverleihung die erste nur noch halb so wichtig gemacht.
Und auch die Ruhrgebietsliteratur als ganze wäre entwertet – es würde ja so wirken, als sei das schreiberische Potenzial der Region so gering, dass immer dieselben ausgezeichnet werden müssten.
Das Vorbild: der Deutsche Buchpreis am Vorabend der Buchmesse
Herbeigeführt ist die fatale Situation letztlich durch den neuen Modus, in dem der Literaturpreis Ruhr seit 2020 vergeben wird: Um der Preis-Gala ein Spannungsmoment zu verleihen, muss ein Kopf-an-Kopf-Rennen stattfinden. Oder wenigstens suggeriert werden. Das Vorbild dafür ist der Deutsche Buchpreis, der 2005 vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels eingeführt wurde und sich als äußerst wirksames Instrument der Verkaufsförderung erwiesen hat. Der Deutsche Buchpreis kürt am Vorabend der Frankfurter Buchmesse den besten deutschsprachigen Roman des Jahres. Hier handelt es sich also um ein Wettrennen innerhalb eines Genres. Beim Literaturpreis Ruhr aber treten nun Kinderbücher und Gedichtbände gegen Romane und Sachbücher an. Ist es schon schwierig genug, Romane untereinander als „besser“ und „schlechter“ zu bewerten, werden beim Literaturpreis nun Äpfel mit Birnen, Quitten und Pflaumen verglichen. Ohne es vielleicht zu wollen, trägt ausgerechnet das den Modus der pausenlosen Konkurrenz, des unablässigen Vergleichs und Wettbewerbs auf das Feld einer Kunstform, die ja oft genau diese kompetitive Gesellschaft und ihre mitunter desaströsen Folgen für die Einzelnen kritisch aufs Korn nimmt.
Die Jury steckte ebenfalls in einem Dilemma
Die Jury des Literaturpreises brachte die neue Verleihungslogik ebenfalls in ein Dilemma: Sie konnte den tatsächlich ja herausragenden Roman von Ralf Rothmann (der im Mai seinen 70. Geburtstag mit einer Lesung im Theater Oberhausen feierte) nicht beiseitelassen, es hätte allzu ignorant gewirkt. Sie dürfte sich am Ende aber, aus den genannten Gründen, kaum für „Die Nacht unterm Schnee“ entschieden haben, zumal eine solche Jury in den seltensten Fällen ausschließlich literarische Kriterien berücksichtigt.
Immerhin: Genau wie beim Deutschen Buchpreis fördert der Literaturpreis Ruhr nun nicht nur die Aufmerksamkeit für den Preisträger oder die Preisträgerin, sondern auch die für die Namen auf der Shortlist. Vier von ihnen müssen im Falle des Literaturpreises Ruhr die vermehrte Aufmerksamkeit allerdings damit bezahlen, am Ende als Verlierer vom Platz zu gehen. Auch das hat Ralf Rothmann mit seiner Absage vermieden.
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Jens Dirksen war von 1999 bis 2020 Mitglied der Jury zum Literaturpreis Ruhr