Essen. Lyrik für die Generation Millennium: Jacqueline Thör aus Recklinghausen schreibt Romane und Gedichte über heutige Themen. Ein Erfolgsrezept.
Es kann immer passieren. Wenn sie auf Kreta über das Meer schaut. Oder kürzlich, bei einer schweißtreibenden Wanderung in Heidelberg, wo ihr unterwegs der Dreizeiler in den Sinn kam, den sie jetzt spontan zitiert. „Einen Berg besteigen/auf sich/hinabblicken.“ Tatsächlich scheint der Aufstieg der Autorin Jacqueline Thör noch lang nicht abgeschlossen zu sein: Mit 26 hat junge Frau aus Recklinghausen ihren ersten Roman veröffentlicht, inzwischen sind außerdem zwei Gedichtbände erschienen. Junge Lyrik im Revier. Ein Gespräch über den Erfolg, die Inspiration und die Generation Millennium.
Jacqueline Thör ist eine moderne Erscheinung, gleichzeitig wirkt sie, als sei sie ein bisschen aus der Zeit gefallen. Ein blauweißes Kleid, Mittelscheitel, langes blondes Haar, zurückhaltendes freundliches Wesen. Leise ist sie, aber sehr klar. Entspannt, aber aufgeweckt. Präsent, aber auch eine stille Beobachterin, die einräumt, dass sie ihre Umgebung nicht aus dem Blick lassen würde, wenn wir uns nicht gerade unterhielten.
Jacqueline Thör ist Autorin des Buch-Erfolgs „Nenn’ mich einfach Igel!“
Noch während ihrer Master-Arbeit begann sie ihren ersten Roman. Als Initialzündung wirkte ein Bericht über intersexuelle Kinder, bei denen Eltern und Ärzte bestimmen, ob sie als Junge oder Mädchen leben sollen. Thör kam das falsch vor. Sie hat daraufhin angefangen, die Geschichte vom Igel zu schreiben, einem Hermaphroditen, der sich für kein Geschlecht entscheiden kann. Ein knappes Jahr hat sie dafür gebraucht. Eine heutige Erzählung, die bei den Verlagen gut ankam: Gleich drei wollten „Nenn’ mich einfach Igel!“ haben. Thör wirkt, als sei sie darüber nicht sehr überrascht. Orientierungslosigkeit, sagt sie, sei nun mal eines der wichtigsten Themen ihrer Generation.
Ihr eigener Weg indes stellt sich zumindest nach außen höchst gradlinig dar. 1993 in Essen geboren, hat sie in Bochum und Essen studiert, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Medienwissenschaft. Ihren Master schloss sie mit Auszeichnung ab.
Wer schreiben will, braucht Motivation und Disziplin
Inzwischen ist Jacqueline Thör 30 Jahre alt und auch als Lyrikerin erfolgreich. Ihr erster Gedichtband, „Obwohl sich eure Gesichter fast berühren“ erschien 2022. Ein Zyklus darin beschäftigt sich mit der Angst um einen geliebten Menschen in der Zeit der Pandemie, ein zweiter mit psychischen Erkrankungen („Gesänge. In den Ritzen unserer Fenster“), ebenfalls Themen unserer Zeit. Zuletzt brachte sie „Der Mensch, das Meer“ heraus, ein Buch mit Gedichten über die Natur. Sie hat es Merten gewidmet, dem Naturfreund – mit dem sie seit zehn Jahren zusammen ist.
Woher sie ihre Inspiration bezieht, kann sie selbst nicht genau sagen. Nur soviel: Sie liest viel, Terézia Mora, Albert Camus, Hermann Hesse, Patricia Highsmith – beim amerikanischen Lyriker Ocean Vuong gerät die junge Frau ins Schwärmen. Er war es auch, der sie zu ersten Gedichten bewegt hat. „Im Grunde ist das ist wie ein Keim, etwas, das aus dem Unbewussten hochkommt“, schildert Thör. Quelle sei vielleicht der innere Monolog, der sich pausenlos im Kopf abspiele – ein Phänomen, das gerade auch in den Sozialen Netzwerken diskutiert werde. Manche führen ihn, andere nicht. Für Thör ist letzteres schwer vorstellbar. „Also ich kann nicht aufhören zu denken.“
Jacqueline Thör: „Jeden Tag drei Seiten, sonst geht es nicht voran“
Oft kommen ihr während des Tages ein Satz oder Gedichtzeilen in den Sinn, die sie abends aufschreibt. Bei den Romanen läuft es andersherum. Dann setzt sie sich morgens an den Schreibtisch und lässt die Gedanken fließen, bevor sie sie bearbeitet. Die Geschichte und die Hauptfiguren hat sie im Kopf, aber vieles entwickelt sich auch beim Schreiben. „Man braucht Motivation und Disziplin“, fasst sie zusammen. „Jeden Tag drei Seiten, sonst geht es nicht voran.“
Leben kann Thör davon noch nicht, sie arbeitet auch als Lehrerin in einer Realschule in Waltrop. „Aber es läuft gut. Im Grunde bin ich immer fünf Bücher zurück.“ Aktuell hat sie wieder ein neues fertig: „Why.“ sammelt kürzere Geschichten, eine Novelle, ein kleines Drama, essayistische Erzählungen, die sich wiederum um ihre Generation drehen. Im Herbst/Winter wird es erscheinen. Und dann? Ein feministischer Krimi, „Mrs.“
Zwischen Philosophie-Seminar und Uni-Bibliothek
Doch jetzt bindet die junge Autorin erstmal die wahre Welt. Sie will ein Philosophie-Seminar besuchen, aber vorher bleibt noch Zeit für eine Stippvisite in der Universitätsbibliothek, um etwas zu schreiben. Ideen hat sie immer. Segen und Fluch: „Im Grunde habe ich nie frei.“