Mülheim/Essen. Mit Grigory Sokolov und Evgeny Kissin konnte der scheidende Intendant Franz Xaver Ohnesorg zwei Tasten-Titanen beim Klavier-Festival begrüßen.
Großes Finale für Franz Xaver Ohnesorg: Am Wochenende begrüßte der scheidende Intendant des Klavier-Festivals Ruhr noch einmal gleich zwei Titanen unter den klassischen Pianisten: erst Grigory Sokolov in Mülheim, dann tags darauf Evgeny Kissin, der in der Essener Philharmonie wahre Begeisterungsstürme auslöste.
Grigory Sokolov gehört zu den führenden Pianisten, deren Spiel und künstlerische Aura den zwingenden Eindruck von Authentizität vermitteln. Ob er in seinem enormen Repertoire Werke der Renaissance oder des 20. Jahrhunderts interpretiert, das Publikum weiß: So und nicht anders muss es klingen. Auch bei seinem 25. Auftritt im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr verneigte man sich vor einem der ganz Großen unserer Zeit.
Grigory Sokolov komponiert Henry Purcell und Mozart zu einem Programm
Seine Programmgestaltung ist bereits eine Komposition, bei der er diesmal Henry Purcell mit Mozart zusammenbrachte. Eine dreiviertel Stunde lang ohne Atempause Melodien und gleich drei Suiten des englischen Barockmeisters über eine ausgeklügelte Tonartendisposition zur kompletten ersten Konzerthälfte zu schmieden, wer wagt das schon?
Sokolov gelingt es, Phrasen und Formstrukturen auch dank der starken bachischen Linken klar herauszumeißeln und gleichwohl die ziselierten, von Trillern und Auszierungen gekräuselten Figuren in weich getöntes, expressives Melos samt Anklängen an schottischen Halteton und Trompetenpomp einzubinden. Und selbst Benjamin Britten lugte herein, der Purcells „Round O“ ja drei Jahrhunderte später in seinem Orchesterführer für junge Leute zitierte.
Mozart geriet Sokolov zu einer Offenbarung
Mozart geriet in Sokolovs sorgsam gestaltenden Händen zu einer Offenbarung. Da ließ er in der Sonate KV 333 die Sonne aufgehen – nicht in blendenden Strahlen, sondern beseelt und warm leuchtend. Da flossen die Läufe voller Natürlichkeit, da öffneten sich in Dramatik und Harmonik die Türen für Beethoven. Heiterkeit und Hintergründigkeit verschwisterten sich, bevor mit dem Adagio KV 540 der tragische Schattenschlag des späten Mozart überhandnahm und zum leisen (!) Schluss führte. Aus dem Publikum in der vollbesetzten Mülheimer Stadthalle hörte man nicht das kleinste Räuspern, bis sich die Anspannung in jubelndem Applaus und stehenden Ovationen löste.
Sokolov ließ sich wie immer nicht lumpen und dankte seinerseits durch sechs Zugaben, in denen er mit seinem geliebten Chopin auch der pianistischen Brillanz Raum gab.
Evgeny Kissin spielte lieber Chopin statt Debussy
Evgeny Kissins Programm war von Bach bis Rachmaninow breiter gefächert und sollte zunächst auch Debussys „Estampes“ einschließen. Doch er entschied sich anders, weil er dachte, dass es „in Anbetracht der aktuellen politischen Situation angemessener ist, die fis-Moll-Polonaise op. 44 von Chopin“ zu spielen. Und so entwarf er ein packendes Seelengemälde von Leidenschaft, Klage und Verzweiflung, das an Heines Worte erinnern mochte: „Die ganze Welt der Schmerzen muss ich tragen“. Chopins Musik spricht dem Pianisten, der neben der russischen auch die britische und israelische Staatsbürgerschaft besitzt, spürbar aus dem Herzen. Und machte das Werk dank seiner Gestaltungskunst mit rhythmischen Pathos und vulkanischen Eruptionen über sieben Oktaven zweifellos zum Höhepunkt des Abends.
Begonnen hatte alles mit der „Chromatischen Fantasie“, die Kissin in ein üppig-romantisierendes Klaviergewand hüllte, aber an brillanten Zweiunddreißigstel-Läufen und klarem Fugen-Relief nichts schuldig blieb. Mozarts Sonate KV 311 ließ im Adagio die Perlen funkeln, in den Ecksätzen die Spielfreude sprühen, freilich mit recht subjektiven Akzenten und Tempo und Dynamik.
Bei Rachmaninow gelang es Evgeny Kissin, bis weit ins Innere vorzudringen
Rachmaninow beherrschte dann bis in die drei Zugaben den zweiten Teil mit ausgewählten Préludes und „Etudes tableaux“ – Geschichten und Stimmungsbildern zwischen impressionistischem Farbenzauber und orchestral aufgetürmten Klangmassen. Da drang der Pianist weit ins Innere des Komponisten vor, dem man immer noch gern gefälligen Oberflächenglanz nachsagt. Mal melancholischer Poet, mal wuchtiger Magier, der den Steinway nicht nur im finalen Triumphmarsch herausforderte: Evgeny Kis-sin war in seinem Element.