Essen. Die neue „Metropolenschreiberin Ruhr“ Nora Bossong und ihre Antrittslesung mit Romanen, Gedichten, einer Reportage und Buslinien.
Es war während ihres Studiums am Leipziger Literaturinstitut, als Nora Bossong gute Erfahrungen mit dem Ruhrgebiet machte, wie sich nicht alltäglich sind. Ins Revier zog sie sich zu Beginn des Studiums hin und wieder zu längeren Wochenende zurück, um den Kopf aus den so aufregenden wie ablenkungsreichen ersten Semester herauszuziehen. Ihr Lyrik-Professor meinte, sie solle öfter im Ruhrgebiet schreiben, dort entstünden ihre besten Gedichte.
Zum Schreiben vor Ort hat Nora Bossong fünf Romane und drei Gedichtbände später nun noch acht Monate Gelegenheit, am Dienstagabend absolvierte sie ihre Antrittslesung als „Metropolenschreiberin Ruhr“ im blumigen Sommerkleid, ärmellos. Im ehemaligen Wohnzimmer jener Frau, die indirekt auch die Schriftsteller-Residenz fürs Ruhrgebiet stiftete: Anneliese Brost, Witwe des WAZ-Mitbegründers Erich Brost. Die Brost-Stiftung, die das bestens dotierte Stipendium finanziert, residiert hier längst nicht mehr, sie ist zu groß geworden für das Haus, das sich eher gutbürgerlich denn wie eine Villa ausnimmt.
Nora Bossong hat schon einen Roman und eine Reportage übers Ruhrgebiet geschrieben
Nora Bossongs erste prägende Erfahrung im Revier: „Ich brauche hier wohl doch ein Auto“. Das Fehlen von Bussen und Bahnen rund um ihre Autorinnen-Residenz in Mülheim-Broich sollte zum Leitmotiv des lockeren Abends werden, an dem auf Nachfrage von Moderator Alexander Weinstock verriet, dass sie immer vormittags schreibe, „mit viel Kaffee und viel Zucker“, um sich danach dem Recherchieren, Lesen, Kontakten zuzuwenden.
Berührungspunkte mit dem Revier hatte Nora Bossong schon etliche, ihr Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ um den Frottee-Produzenten Tietjen, der so eine Art Gegenstück zu Krupp werden sollte, spielt vor allem in Essen. Über den Roman sagt die in vielen Textformen erfahrene Autorin: „Der Roman ist eine Schule der Empathie, er kann auch Trost geben“. Damit das gelinge, müsse sie aber auch über andere Menschen schreiben als über Nora Bossong (obwohl sie ja mit der Erzählung „Recherche“ gewonnen hat, der um eine Schriftstellerin mit dem Namen Nora Bossong kreist), bemerkt sie mit leisem Spott über die angesagte Masche der „Autofiktion“ und haarspalterische Debatten um „kulturelle Aneignung“.
Nora Bossong ist in Berlin „schneller an einem Bordell als in Broich an der Bushaltestelle“
Und dann war da noch ihre Reportage „Rotlicht“ über Prostitution in Deutschland, in der sie unter anderem auch den damals berühmtesten Straßenstrich des Landes schildert – in der Dortmunder Nordstadt. Und als sie plastisch machen will, wie sehr Prostitution in Deutschland verbreitet ist, kommt wieder der Bus vorbei: „Ich bin in Berlin, wo ich wohne, schneller an einem Bordell als in Broich an der Bushaltestelle.“
In jüngster Zeit fragt sich Nora Bossong allerdings mehr, welche Vision Menschen brauchen oder ganze Gesellschaften, wenn sie woanders hingehen wollen als in die Apokalypse. Das utopische Potenzial der Literatur ist allerdings schon seit Jahrzehnten im Vergleich zu ihrem kritischen ins Hintertreffen geraten. Am Schluss las die Metropolenschreiberin dann Gedichte, erst satirische über die Verwaltung, dann ein melancholisches über Jungs in der Nacht an der Martinstraßen-Brücke. Und vielleicht schreibt sie sogar noch bessere übers Revier, wer weiß.