Essen. 30 Jahre lang hat Ludger Claßen den Klartext-Verlag geleitet, die publizistische „Erfindung“ des Ruhrgebiets ist auch sein Werk. Ein Nachruf.

Das vollkommene Glück war für ihn ein sonniger Tag im Garten mit der Familie, und davon hat Ludger Claßen, der am Dienstagmorgen im Alter von 70 Jahren in seiner Heimatstadt Essen gestorben ist, zuletzt noch etliche erlebt. Die Öffentlichkeit kannte diesen arbeitsfrohen und schließlich auch wirkmächtigen Mann ganz anders: Nüchtern, lakonisch, ein Mensch der Buchstaben und Zahlen, der mit aufgekrempelten Ärmeln auf die Welt gekommen schien, auf die Sache konzentriert.

Seine Sache, das war das Büchermachen. Der mit einer Arbeit über satirisches Erzählen promovierte Germanist und Historiker kam nach einem Volontariat im Fink-Verlag 1985 als Geschäftsführer zum links-alternativen Klartext Verlag, den er im Laufe der Zeit zu einer geschätzten Adresse des Buchmarkts machte. Der hagere Schlaks, aufgewachsen als Sohn eines Schulrektors im Essener Stadtteil Werden, produzierte in mehr als drei Jahrzehnten rund 3500 Bücher. Ein Malocher, der nicht viel Worte zu machen pflegte, der schon Briefe im 140-Zeichen-Format schrieb, als Twitter noch gar nicht erfunden war.

Sozialgeschichte und Fußball, Regionalgeschichte und politischer Aktivismus

Klartext wie auch das später gegründete Fußballfachblatt „Revier-Sport“, als dessen Geschäftsführer Claßen von 1991 bis 1997 fungierte, waren das Projekt einer dezidiert linken „Gegenöffentlichkeit“; der Verlag fühlte sich vor allem der aufblühenden Sozialgeschichtsschreibung im Ruhrgebiet, der „Geschichte von unten“ verpflichtet, die dann auch zu einem der Standbeine von Klartext wurde. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass Claßen Mitte der 80er-Jahre ein Buch der damaligen Senioren-Aktivistin Trude Unruh über Trümmerfrauen publizierte – und drei Jahrzehnte später eine historische Untersuchung über den aus rentenpolitischen Gründen propagierten „Mythos Trümmerfrau“, die noch einmal für großen publizistischen Wirbel sorgte.

„Jungens, euch gehört der Himmel“ und „So werde ich Heribert Faßbender“

Ein anderes Klartext-Standbein waren die Fußball-Bücher, mit denen der Verlag in den 90er-Jahren ein Publikums-Echo und wirtschaftliche Erfolge erzielte. Neben dem umstrittenen Fußballmoderatoren-Wortschatzhelfer „So werde ich Heribert Faßbender“ waren es nostalgische Bücher über Fußballhelden von einst wie „Jungens, euch gehört der Himmel“ über die alte Oberliga West der Vor-Bundesliga-Zeiten.

Claßen formte Klartext mehr und mehr zu einem Verlag für Regionalliteratur und wirkte so nachhaltig daran mit, dass sich das Ruhrgebiet seiner selbst mehr denn je bewusst wurde. Er habe das Revier „sichtbar gemacht in seiner Tiefe, seinem Wachsen und Werden, und in seiner Breite, seinem Reichtum und seiner gerade auch kulturellen, von überlieferten und anachronistischen Klischees oft vernebelten Vielfalt“, lobte ihn einst der langjährige FAZ-Korrespondent für NRW Andreas Rossmann. Es war denn auch der international renommierte S. Fischer-Verlag, der Claßen wegen seiner Verdienste um den Strukturwandel des Ruhrgebiets für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen hatte, das er 2010 bekam - das erfüllte ihn mit Stolz.

2007 verkaufte Claßen Klartext an die damalige WAZ-Mediengruppe

Publizistisch blieb Claßen, der sich sechs Jahre lang als Vorstand für den NRW-Landesverband im Börsenverein des Deutschen Buchhandels engagierte und als Lehrbeauftragter an der Universität Essen angehende Verlagsleute schulte, weiter umtriebig und gründete Anfang der 2000er-Jahre als Chef des neuen K-West Verlags das Magazin „Kultur.West“, ein monatlich erscheinendes Feuilleton für Nordrhein-Westfalen. Und nachdem er mit der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ immer mehr Regionalbücher gemeinsam produziert hatte, verkaufte Claßen Klartext 2007 an die heutige Funke-Mediengruppe.

Er blieb dort Geschäftsführer, bis ihn Ende 2015 die Nachricht einer schweren Erkrankung sein Leben von einem Tag auf den anderen neu ordnen ließ. Dass er seine Antrittsvorlesung, die er vor fünf Jahren als erst zweiter Honorarprofessor an der Universität Duisburg-Essen halten durfte, dem Thema der Ruhrgebietssprache widmete, um den Mythos angeblicher polnischer Einflüsse aufs Revierdeutsch zu dementieren, war typisch für den Wahrheitssucher Ludger Claßen, der nichts so sehr verabscheute wie Unaufrichtigkeit. Der aus guten Gründen nichts so leicht verzieh wie Vergesslichkeit und der nichts so sehr schätzte wie Anteilnahme.

Sein Tod ist ein großer Verlust für das Ruhrgebiet, und wer ihn kannte, wird um einen Menschen trauern, der alte Revier-Tugenden mit neuer Bildung auf das Sympathischste zu vereinen wusste.

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