Hagen/Schmallenberg. . Immer nur Dreivierteltakt? Das Neujahrskonzert der Hagener Philharmoniker fusioniert Walzer mit Jazz. Macht das Publikum mit?
Alles Walzer – oder geht da noch was? Hagens junger Generalmusikdirektor Joseph Trafton hat in Wien studiert und steht entsprechend mit den Partituren der Familie Strauß auf vertrautem Fuß. Doch im Neujahrskonzert entführt er das Publikum jetzt abseits vom gewohnten Programm in seine amerikanische Heimat und begrüßt 2019 in der vollbesetzten Hagener Stadthalle mit einer klangvollen Expedition auf den Spuren des sinfonischen Jazz’. Das Neujahrskonzert wird am Samstag im Kurhaus Bad Fredeburg wiederholt.
Das ist zuerst eine Herausforderung für die Ohren, denn der sinfonische Jazz bringt ganz neue Farben in die vertraute Sinfonieorchester-Klanglandschaft. Das Saxofon spielt jetzt sozusagen die erste Geige, und das Klavier kommt als zusätzliches Rhythmusinstrument zu neuen Ehren.
Pioniere des sinfonischen Jazz’
George Gershwin wird mit „Girl Crazy“ und der „Rhapsody in Blue“ zum Vater unsterblicher Melodien. John Corbett zaubert dabei das berühmte Klarinettensolo mit eleganter Leidenschaft, und Pianist Andrey Doynikov stürzt sich so begeistert und mit so virtuosen Fingerzaubereien auf den Flügel, als wäre das Stück erst gestern komponiert worden und nicht schon 1924. Dirigent Joseph Trafton genießt es, den Drive aus der Musik zu kitzeln; die Tuba schiebt die Bewegung von unten an, während die Trompeten mit ihrem blankpolierten goldenen Ton in den Dialog mit den weichen Kantilenen der Saxophone treten.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg bringt Leonard Bernstein neue Impulse in den sinfonischen Jazz. Die „West Side Story“ ist bis heute ein Dauerbrenner auf den Bühnen der Welt, und die Hagener Philharmoniker ziehen hier und bei „On the Town“ alle Register vom romantischen, samtweichen Streicherschmelz bis zum aufrüttelnden Steelband-Sound im Schlagzeug.
Das ist längst Lieblingsmusik. Doch der Erfolg dieser Melodien darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jazz in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Fall für Mutige ist, für die Avantgarde diesseits und jenseits des großen Teiches. So verfremdet Paul Hindemith in seinem „Ragtime (wohltemperiert)“ von 1921 die c-Moll-Fuge aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier. „Wenn Bach heute lebte, vielleicht hätte er den Shimmy erfunden“, zitiert Joseph Trafton den Komponisten Hindemith. Die Orchesterwarte Leszek Januszewski und Jozsef Hajzer waren früher Balletttänzer und demonstrieren dem Publikum, wie dieser Shimmy geht, das die gelenkigen Schüttelfiguren dann selber ausprobieren darf. Damit hört der Spaß aber auch schon auf, denn, wie Eingeweihte ahnen, ist Hindemiths Ragtime nicht tanzbar.
Der allerschönste Dreivierteltakt
Ein weiterer Avantgardist hat hingegen einige der schönsten Dreivierteltakte komponiert, die je geschrieben wurden: Dmitri Schostakowitsch erfindet mit dem lyrischen Walzer und dem Walzer Nr.2 aus der Suite für Varieté-Orchester Musik für die Seele, in der die Bässe das Herzklopfen der Verliebten hörbar machen und Alexander Schwalb sein Saxofon-Sololied so weit ausschwingen lässt, wie der Himmel über der russischen Steppe hoch ist.
Ein Duke-Ellington-Medley beweist schließlich, dass die Hagener Philharmoniker den Swing haben und in vielen Stilen mit gleicher Freude zu Hause sind. Und dann setzt bei der Zugabe leise ein bekanntes Hornmotiv ein, worauf der Saal jauchzend applaudiert: „An der schönen blauen Donau“. Auch gute Musik. Klangrausch pur. Beim Radetzky-Marsch ist schließlich das Publikum der Star. Alle Jahre wieder. Das fängt ja gut an.